Viktor Orbán "Wo das endet, ist nicht absehbar"

Ungarns Premier Orbán hat vor der Türkei-Reise von Kanzlerin Merkel heftige Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung geäußert und große Bedenken über das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei angemeldet. Zudem plädiert er für eine schnelle Aufnahme Serbiens und Mazedoniens in die EU.

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Viktor Orbán im Interview mit WirtschaftsWoche:

Herr Ministerpräsident, warum haben Sie Helmut Kohl in Oggersheim besucht?

Uns verbindet eine langjährige Freundschaft, wir Ungarn schätzen ihn sehr. Aber wenn sich zwei Politiker treffen, wird natürlich auch über Politik geredet. Ich will allerdings auf keinen Fall in die deutsche Innenpolitik eingreifen. 

Was kam denn zur Sprache?

Europa, immer Europa!

Sie gelten als einer der schärfsten Kritiker des Flüchtlingskurses von Kanzlerin Angela Merkel. Ist Ihnen klar, dass viele Ihr Treffen mit Kohl als Affront gegen Merkel sehen?

Ich unterhalte mich mit allen gern. Helmut Kohl ist über uns erhaben, noch dazu geht man nicht ohne Einladung zu einer Dame.

Zur Person

War Merkels Satz „Wir schaffen das“ naiv?

Frau Merkel dachte, ihre Entscheidung sei gut für Deutschland. Das akzeptiere ich. Doch was gut für Deutschland ist, ist nicht zwangsläufig gut für Ungarn.

Kohl wird kaum billigen, dass Sie die Aufnahme von Flüchtlingen in Ungarn ablehnen. Er hat stets europäische Solidarität betont.

Helmut Kohl ist der Auffassung, dass man in Europa Entscheidungen gemeinsam treffen muss. Und das ist richtig so. Die Folgen von Entscheidungen können wir doch nur teilen, wenn wir sie vorher gemeinsam getroffen haben.

 Sie haben dem EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen zugestimmt. Aber Sie sagen dennoch, es werde nicht funktionieren.

Wir sind der Türkei ausgeliefert. So etwas ist nie gut. Die Sicherheit der Europäischen Union darf sich nicht in der Hand einer Macht außerhalb der EU befinden. Ich habe die Türkei-Strategie nur mit der Auflage unterstützt, dass es zusätzlich ein eigenes Grenzschutzsystem geben muss. Ein Kontinent muss sich verteidigen können.

Das ist Viktor Orbán

Spielen Sie mit „ausgeliefert“ auf den Skandal um den deutschen Satiriker Jan Böhmermann an?

Zunächst denke ich an Geld. Wir EU-Mitglieder haben schon drei Milliarden Euro an die Türkei gezahlt, bald werden noch einmal drei Milliarden Euro fällig. Wo das endet, ist nicht absehbar. Und wenn man auf das Wohlwollen eines Landes so angewiesen ist, kann es zu solchen Unfällen wie bei Böhmermann kommen. Im Juni werden wir aber noch ein ganz anderes Problem bekommen. Dann nämlich werden die Türken auf der Visafreiheit bestehen.

Warum sollte das so ein Problem sein?

Verwehren wir die Visafreiheit, lässt die Türkei die Flüchtlinge nach Europa reisen. Vor diesem Ansturm muss sich Europa schützen können. Es war auch unfair, Ungarn zu attackieren, nur weil wir mit unseren strengen Kontrollen die EU-Außengrenzen geschützt haben. Wir hätten dafür Anerkennung verdient.

"Ein Signal an die CDU"
Alte FreundeDen ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU, r.) und den ungarischen Staatschef Viktor Orban verbindet eine lange Freundschaft. Das für Dienstagmittag geplante Treffen in Ludwigshafen ist nicht das erste zwischen den beiden Politikern. Schon nach seiner überraschenden Wahl zum ungarischen Ministerpräsidenten 1998 war Orban nach Bonn gereist, um sich bei Kohl politischen Rat zu holen (Foto). Das neue Treffen jedoch steht unter veränderten Vorzeichen: Orban gilt heute in der EU als ärgster Gegenspieler von Bundeskanzlerin Angela Merkel, immerhin Kohls Parteifreundin. Die Stimmen zu dem Treffen sind gespalten. Quelle: dpa
"Helmut Kohl sagt das, was Angela Merkel seit Monaten sagt."Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Armin Laschet sagte, Kohl verweise „völlig richtig darauf, dass sich die Flüchtlingsprobleme nicht in Deutschland, sondern nur in den Herkunftsländern lösen lassen“. Kohl sage, dass einsame europäische Lösungen falsch seien, sagte Laschet in der „Passauer Neuen Presse“. Dass ausgerechnet der als Ehrenbürger Europas ausgezeichnete Altkanzler „plötzlich für neue Schlagbäume und Zollhäuschen innerhalb Europas sein soll“, sei absurd. Quelle: dpa
"Europa darf sich nicht weiter spalten lassen."SPD-Generalsekretärin Katarina Barley hat an Altkanzler Helmut Kohl appelliert, seinen Einfluss auf den umstrittenen ungarischen Regierungschef Viktor Orban zu nutzen. In einem Gespräch mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ äußerte Barley die Erwartung, dass der Alt-Kanzler für europäische Solidarität werben werde. Quelle: dpa
"Kohl erweist der europäischen Integration einen Bärendienst."Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner kritisierte Kohl für seine Einladung an den ungarischen Premier. Nun müsse Kohl Orban dringend in die Schranken weisen und ihm ein klares Bekenntnis für die europäische Idee abverlangen, forderte sie gegenüber der dpa. Quelle: Stefan Kaminski/Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Proteste geplant: „Wir werden so weit wie möglich vor das Privathaus Helmut Kohls ziehen und laut unseren Unmut äußeren.“Bei dem Treffen, das laut Kohls Büro privat-freundschaftlichen Charakter hat und nicht öffentlich ist, wird Orban vermutlich auch von Demonstranten begrüßt. Die Stadt hat eine kleine Protestkundgebung nur wenige Dutzend Meter von Kohls Haus entfernt genehmigt. Auf Facebook kündigte die „Antifa Rheinpfalz“ an, in Sicht und Hörweite von Kohls Haus demonstrieren zu wollen. Quelle: Screenshot
"Offenbar wünscht sich der Kanzler der Einheit ein konservativeres Profil seiner Partei."Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner sprach von einem „Signal an die CDU“. In einem Gespräch mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ wertete Lindner den Empfang Orbans durch Kohl als „hochpolitische Entscheidung“. Der FDP-Chef sagte: „Offenbar wünscht sich der Kanzler der Einheit ein konservativeres Profil seiner Partei, eine stärker kontrollierte Flüchtlingspolitik und ein Ende der deutschen Alleingänge“. Er halte es dennoch für problematisch, dass er dafür einem Politiker eine Plattform biete, der wieder in nationalen und nicht europäischen Kategorien denke. Quelle: dpa
"Helmut Kohl zu treffen ist immer ein besonderes Erlebnis."CDU-Generalsekretär Peter Tauber sieht dem Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten und Merkel-Kritikers Viktor Orban bei Altkanzler Helmut Kohl (CDU) betont gelassen entgegen. Im ARD-„Morgenmagazin“ erklärte er: „Wenn andere in Europa erkennen, dass der Ehrenbürger Europas immer ein guter Gesprächspartner ist, dann schadet das der Sache nicht“. Quelle: dpa

Sie verschweigen, dass es einen Vorschlag der EU zum Schutz der Außengrenzen gibt.

Der Reformvorschlag der EU-Kommission basiert aber auf dem Wohlwollen der Mitgliedstaaten und verfehlt sein Ziel, weil er versucht, das Flüchtlingssystem zu reformieren. Im Zentrum steht eine Reform des Dublin-Systems. Das ist ein Fehler. Im Mittelpunkt der Reform muss der Schutz der Außengrenzen stehen. Ohne den können wir die Migrationsfrage nicht lösen. Schengen ist tot, wenn der Schutz der Außengrenzen nicht funktioniert.

Kann Griechenland das alleine schaffen? Braucht es nicht etwa Hilfe von EU-Grenzbeamten?

Für den Schutz der Außengrenzen sind die jeweiligen EU-Länder zuständig. Falls nötig, helfen andere Mitgliedstaaten, und diese europäische Hilfe muss angenommen werden. Passiert das nicht, muss das Land aus dem Schengenraum ausgeschlossen werden.

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