Welt.Wirtschaft

Europas falsche Sehnsucht nach Autarkie

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Anreize setzen statt Autarkie fördern

Aber nun kam und kommt es ja in Europa – trotz aller Diversifikation der Lieferketten – immer wieder zu Lieferengpässen, die die Politik umtreiben. Beispielhaft steht dafür die Diskussion über fehlende Medikamente. Wie kann die Liefersicherheit erhöht werden, ohne dass Europa auf potenziell schädliche direkte Eingriffe in Lieferketten und auf Eigenproduktion setzt?
Die beste Absicherung, die Europa hat, ist der gemeinsame Binnenmarkt, der bei Krisen in einzelnen Ländern Versorgungssicherheit bieten kann. Länder – darunter Deutschland – die zu Beginn der Coronakrise den Export von Gesundheitsgütern in andere EU-Länder unterbanden, haben diesem Sicherungsmechanismus allerdings einen Bärendienst erwiesen. Verankert sich dieser Egoismus im Krisenfall im europäischen Bewusstsein, verlieren alle.

Bei kritischen Gütern wie Medikamenten oder Sicherheitsausrüstung können entsprechende Anreize die Liefersicherheit erhöhen. Der Staat sorgt in seinen eigenen Beschaffungsverfahren und im ohnehin von ihm stark regulierten Gesundheitssektor dafür, dass Lieferfähigkeit honoriert und -ausfälle sanktioniert werden. So kann sichergestellt werden, dass sich die zuverlässigsten Lieferanten im Wettbewerb durchsetzen. Das Instrumentarium der Kreditbürgschaften für Exporte (Hermesdeckungen) könnte auch für Importe genutzt werden, um im Krisenfall eine weitere Belieferung abzusichern. Handelsabkommen sind ein weiteres Instrument, das Liefersicherheit verbessern kann. Dabei muss darauf geachtet werden, dass Importe nicht von bürokratischen Ursprungsregeln unnötig erschwert werden. Das Abkommen der EU mit Korea hat flexible Lösungen für dieses Problem gefunden. Dagegen kann das aktuell in Deutschland diskutierte Lieferkettengesetz für die Liefersicherheit kontraproduktiv wirken, falls es übermäßig ambitionierte Regeln für Importe festlegt.



In einigen Produktkategorien, wie seltenen Rohmaterialien, kann die Diversifikation von Lieferketten unmöglich oder übermäßig teuer sein. Dieser Abhängigkeit können Länder zum Beispiel begegnen, indem sie staatliche Anreize und Strukturen für die Wiederverwertung schaffen, also einen zirkulären Wirtschaftskreislauf fördern. Außerdem sind steuerliche Anreize für eine erhöhte Lagerhaltung denkbar. Die EU könnte gemeinsam strategische Reserven für solche Güter anlegen, wie es auf Länderebene etwa schon mit Öl geschieht. Schließlich ist die Handelsdiplomatie, die strategische Partnerschaften mit wichtigen Lieferländern aufbaut, ein geeignetes Mittel, um Sicherheit zu schaffen. In der Coronakrise hat sich etwa gezeigt, dass Maskenlieferungen aus China vor allem in jenen Weltregionen schnell ankamen, die schon vorher enge Beziehung zu chinesischen Provinzen unterhielten.

Diversifizierte Handelsbeziehungen sind also die bessere Alternative zu Eigenproduktion oder staatlichen Eingriffen in Lieferketten, wenn ein Land mehr Liefersicherheit in Krisenfällen erreichen will. Aber man sollte sich keine Illusionen machen: Auch eine breit angelegte Handelspolitik bietet keine volle Absicherung gegen Lieferausfälle – vor allem dann nicht, wenn eine Krise viele Länder synchron trifft. Auch der Aufbau von Lagern für Notfälle hat seine Grenzen, weil er teuer und verschwenderisch sein kann und für eine konkrete Krise vielleicht gerade die falschen Güter eingelagert wurden.


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Man kann es auch so sehen, dass der Mangel an Schutzausrüstung wie Masken zu Beginn der Coronakrise eine lehrbuchhafte Marktreaktion ausgelöst hat: Die Preise schossen in die Höhe, und in der Reaktion stiegen viele Unternehmen in die Maskenproduktion ein. Relativ schnell wurde der Mangel weitgehend behoben. Solche Marktkräfte sollte man nicht ausbremsen.

Ein Staat kann nicht für jede seltene Krisensituation vorbauen und nicht alle Lieferketten absichern. Wer aber meint, man müsse kritische Güter nur alle im eigenen Land produzieren, wiegt sich in falscher Sicherheit.

Mehr zum Thema: Europa will Macht lernen – wie das gelingen kann.

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