Der Oktober 2022 war ein historischer Monat für die Entwicklung der Inflation im Euroraum: Mit einer Rate von 10,4 Prozent stieg der Verbraucherpreisindex (VPI) in Deutschland auf den höchsten Wert seit den 1950er-Jahren. Im Euroraum erreichte der HVPI mit 10,6 Prozent den höchsten Wert seit Gründung der Währungsunion. Die Preisentwicklung zeichnet sich dabei weniger durch eine Überhitzung der Nachfrage als durch angebotsseitige Störungen infolge der Coronapandemie und der Energiekrise aus.
Das daraus entstehende stagflationäre Umfeld mit niedrigem Wachstum und hoher Inflation hat eine Diskussion über einen möglichen geldpolitischen Zielkonflikt zwischen Inflationsbekämpfung und Konjunkturstabilisierung ausgelöst. In den vergangenen Jahrzehnten bestand dieser Konflikt nicht. Während die Preissteigerungen vor der globalen Finanzkrise die Überauslastung der Realwirtschaft widerspiegelten, gingen die strukturellen Veränderungen und die Unterauslastung der Wirtschaft in den Jahren vor der Pandemie mit einer Phase niedriger Inflation einher. Die durchschnittliche Inflationsrate zwischen 2010 und 2019 lag mit 1,4 Prozent deutlich unter dem Inflationsziel der EZB. Darauf reagierte die EZB zunächst konventionell mit Leitzinssenkungen – und als sie die Zinsuntergrenze erreichte, mit unkonventionellen Maßnahmen wie umfangreichen Anleihekaufprogrammen. Auf diese Weise senkt die EZB Realzinsen und Kapitalkosten und stimuliert die Konsum- und Investitionsnachfrage der Haushalte und Unternehmen.
Aktuell ist die hohe Inflation stärker durch ein niedriges gesamtwirtschaftliches Angebot, insbesondere einen Rückgang des Energieangebots, begründet. Aufgrund von Störungen der globalen Lieferketten sowie des Arbeitsangebots konnte die Ausweitung des Angebots bereits 2021 nicht mit der Erholung der privaten Nachfrage nach der Pandemie Schritt halten. Zudem belasten nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskriegs rückläufige Erdgaslieferungen die Produktion durch steigende Energiekosten.
Allerdings erhöht auch die Erholung der globalen Nachfrage den Inflationsdruck. Das spiegelt sich in der Breite der Inflation wider. Die Kerninflationsrate war im Euroraum seit Oktober 2021 in jedem Monat über zwei Prozent höher als im Vorjahresmonat. Da die hohen Preissteigerungen mit einer verschlechterten konjunkturellen Entwicklung einhergehen, befindet sich die EZB in einer herausfordernden Situation. Bemüht sich die EZB, den breiten Inflationsdruck mithilfe restriktiver Geldpolitik zu bekämpfen, könnte sie die schwache wirtschaftliche Entwicklung weiter dämpfen. Anders als die Fed hat die EZB kein duales Mandat, bei dem neben der Preisstabilität auch ein hoher Beschäftigungsstand befördert werden soll. Stattdessen ist laut Artikel 127 AEUV das vorrangige Ziel, Preisstabilität zu gewährleisten.
Die Inflation ist im November 2022 zwar leicht auf 10,0 Prozent zurückgegangen, aber im zweistelligen Bereich geblieben. Auch gibt die Breite des Inflationsdrucks Anlass zur Sorge. Verschiedene von der EZB berechnete Maße für die Inflation lagen im Oktober mit einer Bandbreite von 3,2 bis 7,3 Prozent weit über dem Inflationsziel der EZB von zwei Prozent Die Unternehmen dürften zudem ihre Kosten weiter überwälzen. Der Sachverständigenrat Wirtschaft erwartet, dass die Inflation im Euroraum nach 8,5 Prozent (2022) zwar zurückgeht, 2023 aber immer noch bei 7,4 Prozent liegt. Daher erscheint eine Fortsetzung der seit Mitte 2022 entschiedenen geldpolitischen Straffung der EZB unausweichlich.
Das heißt nicht, dass die EZB die aktuelle konjunkturelle Entwicklung und die Auswirkungen ihrer Politikmaßnahmen auf die Wirtschaftsleistung ignorieren soll. Die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist entscheidend für den inländischen Inflationsdruck. Gleichzeitig wirken sich geldpolitische Entscheidungen erst mit einer Verzögerung von sechs bis zwölf Monaten auf Inflation und Nachfrage aus. Die Kunst der Geldpolitik besteht darin, Maßnahmen zeitlich und in ihrem Umfang so abzustimmen, dass sie ihre Wirkung nicht zu spät und nicht zu stark entfalten.
Zurzeit kommt hinzu, dass die Unsicherheit in der Wirtschaft und in den Prognosen ungewöhnlich hoch ist, sowohl in Hinblick auf die Gasversorgung als auch auf die tatsächliche Auslastung der Volkswirtschaft. Während umfragebasierte Indikatoren eine normal oder leicht überausgelastete Produktion anzeigen, deutet die geschätzte Produktionslücke auf eine Unterauslastung hin. Aufgrund dieser erhöhten Unsicherheit ist der Übergang auf einen „data-dependent-meeting-by-meeting“-Ansatz nachvollziehbar und zu begrüßen.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Nicht die EZB befindet sich also in einem Zielkonflikt; zunehmend werden aber Konflikte der europäischen Fiskalpolitik mit der Geldpolitik sichtbar. Um die Auswirkungen der Energiekrise und den erheblichen Rückgang der realen Einkommen zu dämpfen, haben die EU-Mitgliedstaaten seit September 2021 Entlastungsmaßnahmen in Höhe von mehr als 600 Milliarden Euro (vier Prozent des BIP der EU) beschlossen. Deutschland sticht mit Maßnahmen in Höhe von bis zu 260 Milliarden Euro (mehr als sieben Prozent des BIP) besonders hervor und bleibt mit Finanzierungssalden von minus 90 Milliarden Euro (2022) und minus 115 Milliarden Euro (2023) expansiv ausgerichtet, wobei die Strompreisbremse und der Abbau der kalten Progression noch hinzuzurechnen sind.
Während diese fiskalischen Maßnahmen stabilisierend auf die Einkommen der privaten Haushalte und die konjunkturelle Entwicklung wirken, steigern sie, da sie defizitfinanziert sind, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und treiben somit den Inflationsprozess weiter an. Dies ist mittelfristig auch der Fall, wenn Maßnahmen kurzfristig die Inflationsrate mechanisch reduzieren, wie etwa die Gas- und Strompreisbremse. Insofern wirkt die Fiskal- der Geldpolitik entgegen und erschwert der EZB die Aufgabe der Inflationsbekämpfung.
Um den fiskalischen Impuls zu begrenzen, wäre es hilfreich, die großteils durch Schulden finanzierten Entlastungspakete zielgenauer auszugestalten. Leider ist es in Deutschland 2022 scheinbar immer noch nicht machbar, Zielhaushalte und -unternehmen nach Einkommens- oder anderen Kriterien differenziert zu erreichen. Durch die Anbindung von Entlastungen an die Abschlagszahlung für den Gasverbrauch wird die gewünschte Zielgenauigkeit nur grob angenähert, da auch wenig bedürftige Haushalte unterstützt werden. Die Schuldenquote und der inflationäre Fiskalimpuls werden so zusätzlich in die Höhe getrieben.
Eine stärkere Begrenzung der Gesamtentlastung der weniger belasteten einkommensstarken Haushalte durch eine Nachsteuerung auf der Einnahmenseite könnte die Zielgenauigkeit verbessern. Dadurch würde die Nachfragestruktur zu preissensitiveren Haushalten mit geringem Einkommen verschoben, was inflationsdämpfend wirken könnte. Mit diesem Vorgehen würde die Fiskalpolitik der Effektivität der Geldpolitik weniger im Wege stehen, was sich langfristig positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung und Stabilität auswirken würde.
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“, Ausgabe 12/2022.