Bilanz als EZB-Chef Draghi, der Unverstandene

Mario Draghi verlässt die Europäische Zentralbank Ende Oktober. Quelle: imago images

Mario Draghi gilt als Retter des Euro. Nach seiner letzten Ratssitzung als Chef der Europäischen Zentralbank bleibt aber vor allem der Eindruck einer großen Entfremdung – nicht nur hierzulande. Eine Bilanz.

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Dieser Artikel erschien erstmals am 25. Oktober 2019 bei der WirtschaftsWoche.

Das Erbe Mario Draghis sind die Minuszinsen, und es sind Aussagen wie diese: „Wir sind weit entfernt von einer Normalisierung der Geldpolitik, weil die Welt weit entfernt von einer Normalisierung ist“. Das sagte der scheidende Chef der Europäischen Zentralbank, der an diesem Donnerstag seine letzte Ratssitzung leitete, im Frühsommer. Womöglich dachte er dabei nicht nur an Handelskrieg und Brexit, sondern auch an die Zukunft des Euro. Und damit an Italien.

Unverständnis und Antipathie stoßen Draghi nicht nur hierzulande entgegen, sondern auch in seinem Heimatland. Im euroskeptischen Lager, das bis zum Sommer die Regierungsgeschäfte führte, gilt Draghi als Vertreter des von Deutschland angeführten und von ihnen verhassten Euro-Establishments, wie der Volkswirt Lorenzo Codogno erklärt. Die Nachfolge-Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und Sozialdemokraten schenke Draghis Mahnungen zu mehr Reformeifer zwar größere Beachtung, „aber gehandelt hat auch sie nicht“.

Es ist das ganz persönliche Drama des Mario Draghi. Er gilt als Retter des Euro, seit er im Sommer 2012 bei einer Konferenz in London die magischen drei Worte sagte: „Whatever it takes“ – die EZB werde alles tun, was nötig sei (und, wie Draghi ergänzte und oft unterschlagen wird, innerhalb ihres Mandats sei), um den Euro zu bewahren. Damit beendete Draghi die Wetten gegen die Gemeinschaftswährung. Das rechnen ihm auch Kritiker hoch an. Draghi, der Erlöser.

Andererseits mahnte und mahnt er beharrlich, alleine könne es die Geldpolitik nicht richten. Auch die nationalen Regierungen seien gefragt, das Wachstum in der Eurozone aufrechtzuerhalten. „Wenn die Zinsen bald wieder steigen sollen, muss die Fiskalpolitik aktiv werden“, unterstrich Draghi zum Abschied.

Namen nennt er nie, doch es ist klar: Wenn Draghi „strukturelle Reformen“ anmahnt, um Wirtschaft und Arbeitsmarkt flottzumachen, meint er hochverschuldete Länder wie Italien. Wenn er Länder mit „fiskalpolitischem Spielraum“ zu mehr Ausgabenfreude auffordert, meint er Deutschland und die Niederlande. Allein: Rom und Berlin wollen davon nichts wissen. Draghi, der Unverstandene.

Eine Woche vor seinem letzten Arbeitstag in Frankfurt, dem 31. Oktober, hat der EZB-Rat am Donnerstag keine fundamentalen Beschlüsse mehr getroffen. Das ist keine Überraschung. Der Kurs für Draghis Nachfolgerin Christine Lagarde ist längst abgesteckt.

Bereits Mitte September hatte Draghi durchgeboxt, dass die EZB ihre Geldpolitik weiter lockert und ab November Anleihen im Umfang von 20 Milliarden Euro monatlich zukauft. Das Programm wird die Bilanzsumme der EZB von zuletzt rund 4,7 Billionen Euro weiter aufblähen.

Es erleichtert Staaten und Unternehmen in der Eurozone, Schulden aufzunehmen. Staatsanleihen des mit mehr als 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldeten Italien werden inzwischen zu Renditen von unter 1 Prozent gehandelt. Deutsche Schuldpapiere rentieren seit Monaten im Minus – Finanzminister Olaf Scholz erhält also Geld für die Schuldenaufnahme.

Doch diese Wirkung der ultralockeren Geldpolitik, analysiert der italienische Volkswirt Codogno, komme bei den Bürgern in Italien kaum an. „Die Leute erkennen nicht, dass die EZB geholfen hat, die Kosten für die Verschuldung niedrig zu halten“, sagt Codogno, einst Chefvolkswirt im italienischen Wirtschaftsministerium und heute Ökonom an der London School of Economics.

Draghi ist der beste Freund der Finanzminister. In seiner achtjährigen Amtszeit hat er die Leitzinsen bis an und unter die Nulllinie gedrückt, nie erhöht. Damit hat er den Regierungen Zeit erkauft. Doch zugleich jeglichen Anreiz genommen, schmerzhafte Reformen anzugehen. Oliver Bäte, Chef des größten deutschen (und von den Niedrigzinsen in besonderem Maße betroffenen) Versicherers Allianz, giftete vor einigen Tagen in einem Interview mit der Financial Times in Richtung Draghi: „Die Fiskalpolitik greift nicht ein, weil Sie es den Leuten leichtmachen, Geld auszugeben, das sie nicht haben.“

Der Italiener erzählt lieber eine andere Version. Er nimmt für sich in Anspruch, dass die Geldpolitik der EZB wirkt. Dass sie Wachstum generiert, Jobs schafft, Löhne treibt. Aber eben nicht die Inflation, an der die EZB ihr Handeln ausrichtet. „Wir werden nicht vor der niedrigen Inflation kapitulieren“, beteuert Draghi. Das war im März 2016.

Was das betrifft, hat Draghi zweifellos Wort gehalten. Aber zu welchem Preis? Die Inflation im Euroraum lag im September bei 0,8 Prozent. Die Inflationserwartungen für die nächsten Jahre liegen unwesentlich darüber, weit entfernt jedenfalls vom EZB-Ziel von annähernd zwei Prozent. Gleichzeitig werden die Klagen von Banken und Sparern immer lauter – vor allem in Deutschland.

Dass es so weit gekommen ist, hat der Italiener sich ein Stück weit selbst zuzuschreiben. Weil er im Anschluss an die Ratssitzungen in Technokraten-Sprech die Beschlüsse erläuterte und damit stets vor allem die Finanzmärkte, nicht den Normalbürger adressierte. Weil er immer wieder mit Alleingängen die Geldpolitik präjudizierte und sich nicht um einen Konsens unter den nationalen Notenbankern scherte. Weil er bisweilen autoritär und rechthaberisch auftritt.

Deutschland und Draghi, das ist eine Episode schleichender Entfremdung. Der Italiener hat nicht vergessen, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Geldpolitik der EZB 2016 mitverantwortlich für den Aufstieg der AfD machte. In diesem Sommer, beim jährlichen Klassentreffen der Notenbanker im portugiesischen Sintra, zahlte Draghi es mit gleicher Münze heim: „Immer wenn nationale Notenbanken das Handeln des EZB-Rats nicht unterstützt haben, hat das Populismus geschürt.“ Ein kaum versteckter Seitenhieb auf seinen ärgsten Widersacher, Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, der nicht begeistert gewesen sein soll.

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Überschritten war die Grenze des guten Geschmacks im September: Die „Bild“-Zeitung karikierte den EZB-Chef als „Graf Draghila“, der die Konten der Deutschen leersauge. Das ging vielen zu weit – auch Isabel Schnabel, Mitglied im Rat der Wirtschaftsweisen. Mit Verweis auf den Brexit mahnte sie im Kurznachrichtendienst Twitter: „Deutschland sollte die EZB nicht als Sündenbock nutzen.“

Am Mittwoch wurde bekannt, dass Schnabel im EZB-Direktorium den Platz der zurückgetretenen Sabine Lautenschläger einnehmen wird. Mario Draghi wird dann nicht mehr da sein. Aber vielleicht ist es für ihn zumindest ein kleiner Trost. Schnabel, kommentierte Draghi nach der Ratssitzung, sei „eine exzellente Ökonomin. Wir sollten ihre Berufung herzlich willkommen heißen.“

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