Viele Wahrheiten Misstrauen gegen Statistik befeuert Parallelwelten

Seite 5/5

Und nun?

Dabei gibt es Möglichkeiten, auch auf der abstrakten Zahlenebene das große Ganze im Blick zu behalten. Davon ist Silja Graupe überzeugt. Die 41-jährige Volkswirtin ist als Kind in einem mittelständischen Betrieb aufgewachsen. Ihre Eltern leiteten eine Fabrik für Metallteile. Doch Ende der Neunzigerjahre stand der Familienbetrieb vor einer typischen Entscheidung: Sollen wir unsere Produktion ins Ausland verlagern? Die Tochter beendete gerade ihr Studium als Wirtschaftsingenieurin. „Da stand ich mit meinem Studium und merkte, dass ich überhaupt nicht weiterhelfen konnte“, sagt die Wissenschaftlerin heute.

„Nur wer weiß, was hinter Statistiken steckt, kann sie richtig anwenden“, Silja Graupe, Ökonomin Cusanus Hochschule. Quelle: David Klammer für WirtschaftsWoche

Graupe begann, andere Disziplinen zu erforschen. Sie ging nach Japan und erkannte dort einen völlig anderen Blick auf die Wirtschaft. Sie verbindet die Inhalte ihres Wirtschaftsstudiums mit Erkenntnissen aus der Philosophie, der Kulturwissenschaft oder der Geschichte. Graupe hebt ihre Aktentasche auf den Tisch und zieht ein Lehrbuch heraus: Es ist ein Buch, das die meisten BWL- und VWL-Studierenden im ersten Semester bestellen: Gregory Mankiws Standardwerk.

Graupe schlägt eine Seite auf und deutet auf eine Tabelle, die Nachfrage vom jeweiligen Preis ableitet. Wenn eine Kugel Eis viel kostet, kaufen die Menschen wenig – wenn es billig ist, wird viel Eis gegessen. „Das ist das Problem. Es handelt sich um reine Gedankenexperimente, bei denen schon vorher feststeht, was sie beweisen sollen. Sie dienen dazu, vermeintliche Gesetze der Wirtschaft zu beweisen, haben aber keinen empirischen Gehalt“, sagt sie. Die ökonomische Statistik funktioniere nach physikalischen Grundsätzen, obwohl es um Menschen geht – mit all ihren Widersprüchen, Instinkten und Emotionen. Graupe bringt ihren Studenten an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues deshalb Statistik bei, die angereichert ist mit Hintergrund: geschichtlich, politisch, kulturell.

In der vergangenen Woche stand das Thema Emissionshandel auf dem Stundenplan ihrer Musterstudenten. Doch anstatt zu berechnen, was die Zertifikate im internationalen Wettbewerb bedeuten, haben sie die statistische Einheit CO2 hinterfragt. Sie diskutieren darüber, welche Umweltphänomene in den Hintergrund geraten sind, seit sich CO2 als standardisierte Einheit für ökologische Entwicklung etabliert hat. „Wir wollen, dass die Studierenden wissen, was hinter den Statistiken und Methoden steckt – nur dann kann man sie richtig anwenden und Alternativen entwickeln“, sagt sie.

Neue Wege in die Wirklichkeit, die suchen auch die Statistiker der Bundesbank. Mithilfe digitaler Technik und neueren Umfragemethoden versuchen sie seit einiger Zeit, der Realität auf ungewohnten Pfaden näherzukommen. Im Bankenbereich etwa verwenden sie Mikrodaten, also Daten über Einzelfälle. Für die Welt der Notenbank-Statistiker, die sich über Jahrzehnte mithilfe von Makrodaten die Welt erklärten, eine Revolution. Auf die Welt der Privathaushalte will man das aber nicht ausweiten.

Womöglich aber ist auch das nur ein Zwischenschritt. Denn längst nimmt digitale Datenanalyse das Feld der Statistiker für sich ein. Lösen Algorithmen also auf Dauer das Problem? Kirchner, der Mann aus der Bundesbank, ist skeptisch. Natürlich, vieles sei bei Big Data möglich. Andererseits: Big Data liefere eher zufällige Daten. Man wisse etwa nie, mit welcher Grundgesamtheit man im Netz aufgefischte Daten vergleichen solle. In Wiesbaden, bei den Chefstatistikern des Bundes, ist man etwas aufgeschlossener. In allen Abteilungen des Bundesamtes arbeiten Menschen daran, Datenströme in Erhebungen zu integrieren. Die Statistiker-Truppe, die die Preisentwicklungen in Deutschland beobachtet, setzt seit einigen Monaten Algorithmen ein: Die Maschine übermittelt Preisveränderungen im Netz in Echtzeit. Die Statistiker verhandeln mit Handelsketten, um Daten von Supermarktkassen auszuwerten. Die Auswirkungen von Big Data auf den Umgang mit Zahlen und Wahrheit seien womöglich so groß wie die Neuerfindung der Statistik im 17. Jahrhundert, schrieb Ökonom Davies im „Guardian“. Während die Daten der bisherigen Statistik allerdings in öffentlicher Hand lagern, liegen die Daten aus Big-Data-Analysen bei den großen privaten Konglomeraten des Netz-Zeitalters. Eine Post-Statistik-Gesellschaft wirft so womöglich ein ganz anderes Problem auf: Die Frage ist dann nicht mehr, ob Daten Wahrheit beschreiben. Sondern wer die Daten kontrolliert. Womöglich befinden sich Ulrich van Suntum, Marcel Fratzscher, die Herren von der Bundesbank und Frau von Oppeln in einer geschlagenen Schlacht, und der Streit tobt künftig nicht zwischen Wahrheit und alternativer Wahrheit, sondern einer öffentlich zugänglichen und einer privat gehüteten Wahrheit.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%