Weltwirtschaft Auf dem Weg in die Stagflation

Der einstige US-Präsident Jimmy Carter (links) und US-Senator Joe Biden im Jahr 1978. Quelle: AP

Weltweit steigen die Inflationsraten. Das könnte dem Bullenmarkt an den Börsen über kurz oder lang ein jähes Ende bereiten – und die Weltwirtschaft in die Rezession treiben. Ein Gastbeitrag.

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Nouriel Roubini ist CEO von Roubini Macro Associates und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Stern School of Business der New York University. Bekannt wurde Roubini, weil er früh und präzise vor den Risiken gewarnt hat, die 2008 zur Finanzkrise führten.

Seit einiger Zeit diskutieren Ökonomen und Anleger intensiv darüber, ob die Preise nach Überwindung der Coronakrise nur kurzfristig steigen oder die Welt vor einem neuen Zeitalter der Inflation steht. Denn sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Kostenseite gibt es preistreibende Faktoren. 

Für einen anhaltenden säkularen Anstieg der Inflation spricht, dass die USA gigantische staatliche Ausgabenprogrammen ausgerechnet zu einer Zeit aufgelegt haben, in der sich die Wirtschaft schneller erholt als erwartet. Zusätzlich zu einem 3-Billionen-Dollar-Paket vom vergangenen Frühjahr und einem Konjunkturpaket im Ausmaß von 900 Milliarden Dollar von Dezember wurden im März Staatsausgaben von 1,9 Billionen Dollar verabschiedet. Ein 2-Billionen-Dollar-Infrastrukturpaket wird in Kürze folgen. Die fiskalische Reaktion der USA auf die Coronakrise übertrifft damit die Maßnahmen gegen die globale Finanzkrise des Jahres 2008 um das Zehnfache.

Den Sorgen, die fiskalische Überdimensionierung könne den Preisauftrieb nachhaltig beschleunigen, wird häufig entgegengehalten, dass die Maßnahmen keine dauerhafte Inflation auslösen, weil die privaten Haushalte einen großen Teil des Geldes zur Seite legen, um damit Schulden zu tilgen. Darüber hinaus erhöhten Investitionen in die Infrastruktur nicht nur die Nachfrage, sondern auch das Angebot. Der wachsende öffentliche Kapitalstock steigere die Produktivität. Ob diese Argumente tragen, ist jedoch fraglich. Die üppigen fiskalischen Transfers der Regierung an die Bürger und deren zurückgestaute Nachfrage sprechen dafür, dass die Konsumausgaben bald kräftig steigen und sich in höherer Preisinflation entladen werden.

Abhängige Notenbanken 

Entscheidend für den Inflationsausblick ist der Kurs der Geldpolitik. Die US-Notenbank Federal Reserve und andere wichtige Zentralbanken haben mit Ausbruch der Coronapandemie die Geldschleusen geöffnet. Die bereitgestellte Liquidität hat die Vermögenspreise kräftig steigen lassen. Mit der anziehenden Konjunktur dürfte auch die private Kreditvergabe ins Laufen kommen. Die zusätzliche Nachfrage wird allmählich auch die Güterpreise in die Höhe treiben.

Inflationsskeptiker wenden dagegen ein, dass die Zentralbanken ihre Bilanzen wenn nötig verkleinern, die Leitzinsen anheben und so die überschüssige Liquidität wieder abschöpfen können. Allerdings fällt es schwer, dieser Behauptung Glauben zu schenken.

In einer Zeit, in der die öffentliche und private Verschuldung ausgehend von einem ohnehin bereits hohen Ausgangsniveau weiter wächst (425 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in fortgeschrittenen Volkswirtschaften und 356 Prozent weltweit) kann nur eine Kombination aus niedrigen kurz- und langfristigen Zinsen die Schuldenlast auf einem tragfähigen Niveau halten. Eine geldpolitische Normalisierung würde in diesem Umfeld die Anleihe- sowie die Aktienmärkte zum Absturz bringen und eine Rezession auslösen. Die Zentralbanken haben ihre Unabhängigkeit längst verloren.

Verteidiger der aktuellen Geldpolitik weisen darauf hin, die Zentralbanken würden alles tun, um ihre Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten, wenn Vollauslastung und Vollbeschäftigung erreicht sind und die Inflationsgefahren steigen. Denn sie hätten kein Interesse daran, dass sich die Inflationserwartungen entankern. Das zerstöre den Ruf der Zentralbanken und münde in einen nachhaltigen Inflationsprozess.

Zudem wird behauptet, die Monetarisierung der Haushaltsdefizite wende eine ansonsten drohende Deflation ab. Dieses Argument aber wäre nur gültig, wenn der Schock, der die Weltwirtschaft derzeit trifft, dem des Jahres 2008 ähnelte, als das Platzen der Immobilienpreisblase zu einer Kreditklemme und zu einem Nachfrageausfall führte.

Demografische Zeitenwende

Das Problem heute ist jedoch, dass wir uns von einem negativen gesamtwirtschaftlichen Angebotsschock erholen. Insofern könnte eine zu lockere Geld- und Fiskalpolitik Inflation oder, schlimmer noch, Stagflation (hohe Inflation bei gleichzeitiger Rezession) nach sich ziehen. Schließlich setzte die Stagflation der 1970er Jahre nach zwei Öl-Angebotsschocks infolge des Jom-Kippur-Kriegs 1973 und der iranischen Revolution 1979 ein.

Auch heute gibt es Faktoren, die den langfristigen Wachstumstrend drücken, die Produktionskosten in die Höhe treiben und so Stagflation befördern. Dazu gehören die Deglobalisierung und der wachsende Protektionismus, Lieferengpässe durch die Pandemie, die Verschärfung des sino-amerikanischen kalten Krieges sowie die daraus resultierende Zersplitterung globaler Lieferketten. Auch die Verlagerung ausländischer Direktinvestitionen aus dem Niedrigkostenland China an Orte, die von höheren Kosten geprägt sind, gehört dazu.

Ein weiterer Faktor ist die demographische Entwicklung, sowohl in den Industrieländern als auch in den Schwellenökonomien. Die wachsende Anzahl älterer Menschen, die gegen Ende ihres Lebens mehr konsumieren wollen, wird die Konsumausgaben ankurbeln. Da diese Personen dem Arbeitsmarkt als Arbeitskräfte nicht mehr zur Verfügung stehen, verstärkt sich der Aufwärtsdruck auf die Arbeitskosten. Maßnahmen der Regierungen zur Eindämmung grenzüberschreitender Migration treiben die Löhne zusätzlich.  

Technologische Gegenkräfte



Darüber hinaus erhöht die wachsende Einkommens- und Wohlstandsungleichheit die Gefahr populistischer Gegenreaktion. Diese könnten sich in regulatorischen Maßnahmen zur Stützung von Löhnen und Einkommen niederschlagen und die Arbeitskosten weiter nach oben treiben. Im Unternehmenssektor könnte sich die Konzentration oligopolistischer Macht ebenfalls als inflationstreibend erweisen. Denn sie stärkt die Preissetzungsmacht der Hersteller. Regulierungen, die sich gegen die großen Tech-Konzerne richten, könnten hingegen den Innovationsprozess verlangsamen. 

Die These von der Rückkehr der Stagflation hat Widerspruch ausgelöst. Die Kritiker weisen darauf hin, dass technologische Innovationen in den Bereichen künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und Robotik Arbeitskräfte einsparen und so die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften schwächen. Das wirke einem Lohnschub entgegen. Zudem ließe sich die Verknappung von Arbeitskräften durch ein höheres Renteneintrittsalter entschärfen.

Der Trend zur Deglobalisierung könne sich wieder umkehren, da es in vielen Teilen der Welt zu einer Vertiefung der regionalen Integration komme. Im Dienstleistungssektor sei es dank der modernen Technologien zudem möglich, die Lohnkosten niedrig zu halten ohne Masseneinwanderung zuzulassen. So muss ein Programmierer in Indien nicht ins Silicon Valley ziehen, um eine App für die USA zu konzipieren. Politische Maßnahmen zur Verringerung der Einkommensungleichheit, so wird argumentiert, heizten nicht die Inflation an, sondern wirkten als ein nachfragestimulierendes Korrektiv gegen deflationäre säkulare Stagnation.

Ende des Bullenmarktes

Was ist die Conclusio aus all diesen Argumenten? Nun, kurzfristig dürfte die Flaute auf den Arbeitsmärkten einen anhaltenden Inflationsschub verhindern. Sobald sich der Arbeitsmarkt stabilisiert, werden die lockere Geld- und Fiskalpolitik ihre Wirkungen jedoch entfalten und einen anhaltenden inflationären und schließlich stagflationären Prozess in Gang setzen.

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Die Rückkehr der Inflation wird schwerwiegende wirtschaftliche und finanzielle Folgen haben. Die Welt tritt dann in eine Phase der makroökonomischen Instabilität. Der säkulare Bullenmarkt im Bereich der Anleihen wird sich seinem Ende zuneigen, steigende nominale und reale Anleiherenditen lassen die Schulden dann zunehmend untragbar werden und die Aktienmärkte abstürzen. Am Ende des Prozesses könnte die Welt in die Stagflation rutschen – so wie in den 1970er Jahren. 

Mehr zum Thema: Die Kosten der Lebenshaltung steigen, wahrscheinlich sogar längerfristig. Die Weltwirtschaft steht vor einer langen Phase mit höherer Inflation. Die Gründe dafür sind nicht nur in den Pandemie-Lockdowns zu suchen.

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