Gesetze stoßen an ihre Grenzen Jura-Professor will Facebook und Co. Moral beibringen

Urs Gasser, hier am Zürichsee, will im Silicon Valley den Sinn für ethische Fragen schärfen. Quelle: Anne Gabriel-Juergens

Dass Facebook die Daten seiner Nutzer nicht besser geschützt hat, sorgt weltweit für Empörung. Urs Gasser ist der Mann, der dem Silicon Valley Verantwortungsbewusstsein beibringen will.

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Der Abend legt sich über den Harvard-Campus. Urs Gasser steht im Faculty Club – schwere Teppiche, schwere Tischtücher – und begrüßt eine deutsche Delegation. Fast schüchtern schüttelt er Hände von Unternehmern und Aufsichtsrätinnen. Dabei sind alle an diesem Abend nur gekommen, um von ihm zu erfahren, was Ethik und Algorithmen miteinander zu tun haben.

Autonome Autos werden nicht durch Favelas in Brasilien fahren, weil diese auf digitale Landkarten gar nicht aufgenommen werden, sagt er. Der Graben zwischen Arm und Reich werde so noch größer. Müsste nicht ein Solidaritätsfonds aufgesetzt werden, der Ländern hilft, die vom Durchmarsch der künstlichen Intelligenz nicht profitieren werden? Wie viele Jobs werden wegen der Automatisierung wegfallen? „Wir haben noch keine richtigen Methoden, um das voraussagen zu können“, sagt Gasser. Und was, wenn Algorithmen Rechtsurteile aussprechen – und menschliche Vorurteile noch verstärken? Das Publikum wird mit jedem Beispiel stiller.

Gasser, nach hinten gekämmte Haare, Hornbrille und meist mit Einstecktuch im Blazer anzutreffen, ist der Ethikeinflüsterer fürs Silicon Valley. Er leitet das Berkman Center for Internet & Society, ein interdisziplinäres Forschungsinstitut an der Harvard-Universität. Und er gibt Techmäzenen das moralische Rüstzeug fürs Zeitalter der künstlichen Intelligenz. Web-Veteranen wie Ebay-Gründer Pierre Omidyar und Reid Hoffman, Gründer des Business-Netzwerk LinkedIn, wollen von ihm wissen, was sie heute tun können, um das Internet zu retten.

Netzwerker mit Hang zur Bescheidenheit

So wie vor ein paar Monaten in Honolulu. In einem Ferienresort in der Hauptstadt Hawaiis setzten sich die beiden Milliardäre und der Wissenschaftler zusammen, tauschten sich über Fake News und Algorithmen mit eingebetteten Vorurteilen aus. Jeweils zehn Millionen Dollar haben Omidyar und Hoffman im vergangenen Jahr für einen Fonds gespendet, der die Forschung über Ethik und künstliche Intelligenz voranbringen soll. Verwaltet wird der gemeinsam mit Gassers Institut und dem MIT Media Lab, einer der weltweit führenden Einrichtungen zur Zukunftsforschung.

„Viele Techkonzerne wie Facebook oder Google haben ihre Produkte in die Welt gesetzt, ohne sich je Gedanken über die gesellschaftlichen Implikationen ihrer Technologie zu machen“, sagt Gasser. Die weltweite Empörung darüber, dass Facebook die Daten seiner Mitglieder nicht gut genug geschützt hat, sodass Cambridge Analytica sie im Wahlkampf für den US-Präsidenten Donald Trump einsetzen konnte, ist dafür nur ein Beleg. Ein weiterer: Mark Zuckerberg, Gründer und Chef von Facebook, stellt sein Geschäftsmodell nur widerwillig infrage. Die prominenten Geldgeber aber hoffen, dass sie mithilfe des Schweizer Rechtsprofessors die Haltung ihrer Nachfolger verändern können: Gasser ist der Mann, der den Algorithmikern Verantwortungsbewusstsein beibringen will.

Als Google verkündete, alle Bücher der Welt scannen zu wollen, organisierte Gasser in Harvard die Gegenbewegung. Daraus ist die Digital Public Library of America entstanden. Die Nichtregierungsorganisation hat selbst Bücher in US-Bibliotheken gescannt, damit das Wissen der Welt digital nicht eines Tages hinter einer Bezahlschranke von Google verschwindet. Autokonzerne suchen den Rat des Juristen beim Thema selbstfahrende Vehikel. Und als sich im vergangenen Jahr das Deutsche Internetinstitut in Berlin konstituierte, eine von den drei Universitäten der Stadt getragene Einrichtung, saß Gasser mit in der Jury. Kann ein Wissenschaftler das Valley wirklich zähmen helfen?

Ein Wissenschaftler gegen das Valley

Aufgewachsen ist Gasser in Gerlafingen, knapp 5000 Einwohner, nördlich von Bern. „Auf mich hat keiner in Harvard gewartet“, sagt er. Dass er es dennoch bis an die Spitze des führenden Internetforschungszentrums geschafft hat, liegt daran, dass er besessen von seiner Arbeit ist. Das sagt zumindest seine Lebensgefährtin, auch wenn sie das viel freundlicher ausdrückt.

Er spreche seine Meinung aus, ohne Rücksicht auf Hierarchien, sagt eine Wissenschaftlerin, die mit ihm zusammengearbeitet hat. Und Gasser bringt in der Welt der Alphatiere eine seltene Eigenschaft mit: Bescheidenheit. Die scheint zu entwaffnen.

Seit 15 Jahren forscht Gasser über den Einfluss der Digitalisierung auf die Gesellschaft. Irgendwann kamen immer mehr Gelehrte am Berkman Institute mit Fragen rund um Ethik und Algorithmen auf ihn zu. „Die Fellows sind ein Frühwarnsystem. Mir wurde klar, dass wir ein Gegengewicht zur Westküste und dem Valley brauchen“, sagt er. Wohin die Menschheit dank des technologischen Wandels steuert, das könne man doch nicht allein ein paar Konzernen überlassen. Die Rechtswissenschaft müsse sich dafür neu erfinden: „Gute alte Gesetze mit Verboten und Geboten stoßen an Grenzen.“ Skaleneffekte, globale Reichweite der Plattformen und das enorme Tempo des technischen Wandels müssten vom Gesetzgeber mit berücksichtigt werden. Wie das genau klappen könnte, daran forschen sie an seinem Institut.

Gasser steht vor Unternehmern in Zürich. Wieder ein Vortrag. Er ist ein Handlungsreisender seiner Forschungsarbeit, will die Menschen aufrütteln und Verbündete finden. Künstliche Intelligenz werde schon umfassend eingesetzt, obwohl sie noch gar nicht ausgereift sei, trägt er vor. Ein Zuhörer meldet sich. Er sei nicht überzeugt, dass die Technologie schon so viel Einfluss auf die Gesellschaft habe. „Schauen Sie sich die Wahlbeeinflussung in sozialen Netzwerken durch Bots in den USA an. Das ist ein direkter Eingriff in die Demokratie. Und Sie sind nicht überzeugt?“, fragt Gasser. Der Mann setzt sich.

Umsichtigere Systeme, die Fakten statt Fake News liefern, oder eine Rechtssprechung, die von Software unterstützt wird, aber niemanden diskriminiert – das lassen Omidyar und Hoffmann von Gasser und seinem Team in Harvard erforschen. Die Kollegen vom MIT sollen, basierend auf den Erkenntnissen, Prototypen bauen. Sie stehen noch am Anfang, ihr gesammeltes Wissen soll später in die Kultur des Valleys weitergegeben und so den Ingenieuren Ethik eingepflanzt werden.

Nur gemeinsam eine Chance

„Wenn bei Uber nicht nur Technologen am Werk gewesen wären, hätte man die Herausforderungen der Sharing Economy schon viel früher erkennen können“, sagt Gasser. Nun schwinde der Rückhalt in der Bevölkerung für den Taxischreck, der seine Fahrer mies bezahlt.

Das richtige Verhältnis zu den Techkonzernen finden – auch für Gasser selbst ist das eine existenzielle Frage. Das Berkman Center wird unter anderem von Google mitfinanziert. Wird hier nicht Lobbyismus im Gewand der Forschung betrieben? Gasser atmet tief durch. Man werbe nie mehr als zehn Prozent des Jahresbudgets aus der Wirtschaft ein. Die Geldgeber müssten zudem immer auch Konkurrenten sein, wie Google und der Telekomkonzern AT&T. „Ich lasse mich in meinem Urteil nicht beeinflussen“, sagt er.

Als Gasser 2009 Leiter des Berkman Institute wurde, war die Forschungsstätte noch eine reine US-Institution. Er hat daraus ein internationales Netzwerk geformt, 80 Digitalforschungszentren sind heute Teil der Bewegung. „Das gibt uns eine größere Durchschlagskraft und eine lautere Stimme“, sagt Gasser. Die Facebook-Krise könnte der Wendepunkt sein, nach dem sie nun auch gehört werden.

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