
Wirtschaft von oben #345 - Istanbul-Kanal: Wird Erdoğans großer Graben zum Milliardengrab?
Der Bosporus ist seit tausenden Jahren eine Handelsroute, doch sie ist dauerbelastet. Jährlich nutzen Zehntausende Schiffe den Wasserweg. Die Wartezeiten für eine Durchfahrt: 14 Stunden bis 4 Tage. Ein neuer Kanal soll die auf zwei Kontinenten gebaute Stadt Istanbul und ihre Meerenge künftig entlasten. Betrachtet man die Dimensionen des Vorhabens, wird jedoch schnell klar: Die Umsetzung wird schwierig.
45 Kilometer lang, 275 Meter breit und fast 21 Meter tief soll sich der Kanal westlich des neuen internationalen Flughafens durch die europäische Landzunge ziehen. Hinzu kommen sechs Brücken, ein Hafen und neue Wohngebiete für eine halbe Million Menschen. Insgesamt hat die Regierung im Verlauf der Planungen sechs alternative Korridore geprüft. Der offizielle Spatenstich erfolgte im Juni 2021, zehn Jahre nachdem Recep Tayyip Erdoğan – damals noch Ministerpräsident – das Megaprojekt auf den Weg gebracht hatte.
Inklusive Vorbereitung, Ausschreibungen und Bau sollen bereits nach sieben Jahren die ersten Schiffe auf der neuen Route fahren. Die Kosten schätzt die türkische Regierung auf 15 Milliarden Dollar, refinanziert – zumindest teilweise – durch Schiffsgebühren. Acht Milliarden Dollar jährlich an Einnahmen soll der Kanal den Schätzungen zufolge einbringen. Hört man sich um, bei Bauingenieuren, Reedereien und politischen Beobachtern, wird klar: Viele der Versprechen könnten der Regierung in Ankara noch vor die Füße fallen.
Istanbul-Kanal – gewaltige Erdbewegungen nötig
Die größte Herausforderung summiert sich Regierungsangaben zufolge auf 1,17 Milliarden Kubikmeter – so viel Volumen hat der beim Bau des Projekts anfallende Aushub. Damit könnte man den Berliner Wannsee knapp 80-mal füllen.
„Eine solche Baustelle erfordert natürlich eine aufwendige Logistik, schließlich müssen Millionen Kubikmeter Boden bewegt werden“, sagt Bauingenieurin Jeannette Ebers-Ernst, die unter anderem an Planungen zum Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals beteiligt war. Dabei entscheidet auch die Geologie über das Volumen und die Art des Aushubs. „Eine Felswand kann ich senkrecht abtragen, bei Böden muss ich hingegen einen entsprechenden Böschungswinkel herstellen.“
Brückenbaustelle am Sazlidere Damm
23.06.2025: Der Bau der 440 Meter langen Autobahnbrücke am Sazlidere Damm ist aktuell das sichtbarste Zeichen für den Fortschritt des Kanalprojekts.
Bild: LiveEO/Google Earth
Zur schieren Menge an Boden kommt noch ein entscheidender Faktor hinzu: das Wasser. „Wenn wir auf dem Niveau des natürlichen Wasserspiegels unterwegs sind, heißt das, früher oder später hat man mit einem enormen Wasserandrang zu tun“, sagt Ebers-Ernst. Das mache den Bau ungleich schwieriger und entscheide schlussendlich maßgeblich über die Wirtschaftlichkeit.
Das erklärt auch, wieso bisher vom eigentlichen Bau des Kanals noch nichts zu sehen ist: Es ist einfacher, die Brücken im Trockenen zu bauen. Beginnt der Bau der Fahrrinne, so ist für die Expertin insbesondere die Tiefe von fast 21 Metern ein nicht zu unterschätzender Faktor. Zum Vergleich: Der Nord-Ostsee-Kanal ist lediglich 11 Meter tief.
Bedenkt man all diese Herausforderungen, so ist für die Bauingenieurin klar: „Die Prognose von bis zu sieben Jahren Bauzeit ist nicht realistisch. Ich würde behaupten, in unter 15 Jahren wird man so etwas nicht bewältigen können.“ Auch die Kosten werden ihrer Ansicht nach um ein Vielfaches höher liegen. „Unter 50 Milliarden Euro geht da nichts“, rechnet man alle Nebenprojekte mit ein, dürften es bis zu 100 Milliarden Euro sein.
Geschäftsmodell mit Fragezeichen
Aus den hohen verdeckten Kosten folgt umgehend die nächste Frage: Kann sich das Projekt selbst finanzieren? Während Teilprojekte wie die Wohngebiete oder der geplante Schwarzmeer-Containerhafen aus dem Blickwinkel der Profitabilität noch vergleichsweise solide daherkommen, sieht es beim eigentlichen Kanal anders aus.
Im Jahr 2024 durchquerten den Bosporus laut der türkischen Regierung insgesamt 51.058 Schiffe, welche Gebühren in Höhe von 227,4 Millionen Dollar zahlten. Nach einer Gebührenerhöhung im Juli 2025 um 15 Prozent sind nun 5,83 Dollar pro Nettoregistertonne fällig. Bei einem gleichbleibenden Verkehrsaufkommen entspräche dies für das laufende Jahr also rein rechnerisch Einnahmen von ungefähr 260 Millionen Dollar.
Durchfahrtsgebühren im eigentlichen Sinne sind dies jedoch nicht, sondern nur Zusatzgebühren für Navigation, Lotsen und Schlepper. Der Grund: Laut der Montreux Convention – einem internationalen Vertrag aus dem Jahr 1936 – darf die Durchfahrt durch die Meerenge für Handelsschiffe nicht beschränkt werden und muss kanalgebührenfrei bleiben. Aus Sicht der türkischen Regierung gilt diese Regel jedoch nicht für den neuen Kanal.
Die heutigen Einnahmen sind weit von dem als Ziel ausgegebenen Jahresumsatz des neuen Istanbul-Kanals von bis zu acht Milliarden Dollar entfernt. Das heißt: Entweder die Türkei hofft darauf, dass ein Ende des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine den Handel im Schwarzen Meer – und damit die Zahl der Schiffspassagen – deutlich ansteigen lässt, oder es wird ein Vielfaches der Gebühren fällig. Ohne mehr Schiffsverkehr müssten die Gebühren pro Registertonne auf das 30-Fache steigen, um die Zielmarke zu erreichen.
Das wäre weltweit wohl beispiellos: Laut der Beratungsfirma Hamburg Port Consulting (HPC) werden mit den Gebühren bei vergleichbaren Kanälen wie in Ägypten und Panama vor allem laufende Kosten wie Reparatur und Instandhaltung gedeckt. Die Kostenkalkulation von Reedereien dürfte bei solch einem Anstieg durcheinandergeraten. Schon jetzt gilt es für die Verantwortlichen, unterschiedliche Faktoren abzuwägen: „Für Reedereien hängt die Rentabilität vom Verhältnis zwischen Wartekosten und Passagegebühren ab; die Schmerzgrenze variiert je nach den aktuellen Bedingungen des Schiffes“, heißt es bei Hapag-Lloyd.
In Hamburg geht man aktuell ohnehin noch davon aus, dass der Istanbul-Kanal nur eine Nebenroute bleiben und der Bosporus weiter die zentrale Schiffsroute ins Schwarze Meer darstellen wird. Attraktiv werde der neue Seeweg nur, wenn er kürzere Wartezeiten, Sicherheit sowie weitere Anreize verspreche. Hohe Gebühren dürften die Reeder dagegen eher abschrecken. Entscheidend wird aus Sicht von Beobachtern letztlich sein, ob die bisherige Route durch den Bosporus gebührenfrei bleibt. Eine hochpolitische Frage.
Politisches Minenfeld
Der bereits erwähnte Vertrag von Montreux enthält nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine geopolitische Komponente. Diese regelt die Durchfahrt von Militärschiffen durch die Meerenge und lässt der Türkei dabei wenig Handlungsspielraum. Solange das Land nicht selbst in einen militärischen Schlagabtausch involviert ist, bleibt die Meerenge in Kriegszeiten sogar nahezu komplett für derartige Durchfahrten der Kriegsparteien gesperrt. Die Frage ist, ob dies auch für den Kanal gelten würde.
Unter dem Strich bleibt eine schier unlösbare Zwickmühle: Bleibt die Fahrt durch den Bosporus weitgehend kostenfrei, wird der Istanbul-Kanal mit hoher Wahrscheinlichkeit zum wirtschaftlichen Rohrkrepierer. Erhebt die Türkei indes Gebühren oder beschränkt den Verkehr im Bosporus, lässt sie eine geopolitische Bombe los.
Die Berliner Stiftung für Wirtschaft und Politik (SWP) hat sich bereits 2021 – im Jahr des Spatenstichs – mit dieser Frage beschäftigt. Angesichts des laufenden Kriegs zwischen der Ukraine und Russland sowie der Energiesorgen Europas könnte diese Analyse jedoch aktueller kaum sein.
Aus Sicht der Politexperten birgt nicht nur die Art und der Umfang von militärischem Schiffsverkehr politischen Sprengstoff, sondern auch die Tatsache, dass ein bedeutender Teil der europäischen Ölversorgung über den Bosporus abgewickelt wird. Hohe Gebühren würden demnach die Energiekosten des gesamten Kontinents in die Höhe schrauben. Die EU werde daher kaum bereit sein, den Status quo aufzukündigen. Das gilt im Übrigen auch für Russland, dessen Öl-, Gas- und Getreidehandel ebenso an der Lebensader Bosporus hängt.
Geht die Türkei dennoch auf Konfrontationskurs, könnte sie sich damit aus Sicht der Berater von HPC auch in anderer Hinsicht schaden. Ihnen zufolge entwickelt sich der sogenannte mittlere Handelskorridor zwischen Europa und Asien – eine Route von China durch das Kaspische Meer, Georgien und das Schwarze Meer bis nach Rumänien – aktuell zu einer Bosporus-Alternative. Verschieben sich die Handelsströme komplett, bleiben sowohl der Bosporus als auch der Istanbul-Kanal verwaist.
Das Gesamturteil der Berater: „Insgesamt erscheinen die Risiken und nicht-monetären Kosten neben den monetären Kosten hoch“. Stünde die Bevölkerung der Türkei hinter dem Projekt und seinen Zielen, könnte man den neuen Kanal zumindest als wichtiges Prestigeprojekt Erdoğans bezeichnen. Doch insbesondere in der namensgebenden Millionenstadt ist die Kritik groß. Die Bürger zweifeln an den Baugutachten und fürchten um die Trinkwasserversorgung Istanbuls. „Die Frage der Versalzung ist bei diesen Projekten immer ein Thema, das Schwarze Meer ist ein Brackwasser“, sagt auch Ingenieurin Ebers-Ernst. Trotz der Beteuerungen der Verantwortlichen sind die Bedenken so groß, dass Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu Klage eingereicht hat.
Aus Politik und Gesellschaft machen sich vor allem der türkische Staatschef und seine Regierung für das Megaprojekt Istanbul-Kanal stark. Darüber hinaus – national und international – gibt es wahlweise Schweigen oder Kritik. Hat die Klage Erfolg, oder wird der internationale Druck zu groß, könnte aus dem Milliardenprojekt schnell ein Milliardengrab werden.
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Die Rubrik entsteht in Kooperation mit dem Erdobservations-Start-up LiveEO – dieses ist eine Beteiligung der DvH Ventures, einer Schwestergesellschaft der Holding DvH Medien, ihrerseits alleiniger Anteilseigner der Handelsblatt Media Group, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.












