Logistik „Die Konkurrenz hat Amazon Air selbst provoziert“

Mehr Kontrolle dank Airline - Flugzeug der Amazon Frachtairline     Quelle: AP

Der Logistikberater Nathan Zielke über das Erfolgsgeheimnis des Frachtfluggeschäfts von Amazon, weshalb Unternehmen wie Walmart oder Coca-Cola trotzdem besser die Finger von der Fliegerei lassen sollten und warum die Airline vor allem dank der Amazon Web Services starten konnte.

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Nathan Zielke, 43, ist Managing Director der internationalen Logistikberatung Cullinan Consulting. Davor war er Vorstand bei den Frachtabteilungen der Staatsbahnen von Österreich und der Schweiz, Führungskraft im Fluggeschäft der Beratung Arthur D. Little und Gründer mehrerer Digital-Unternehmen.

Amazon hat für viele Milliarden Euro in Rekordzeit eine Frachtlinie aufgebaut. Was bringt das?
Es macht das Unternehmen unabhängig. Es ist seit langem erklärter Teil der Strategie von Amazon, den Kundenwunsch in den Vordergrund zu stellen. Und da Kunden nicht warten mögen, steht die konsequente Verkürzung der Zustellzeit mit an oberster Stelle von Amazons Prioritätenliste.

Und das geht nur mit einer eigenen Fluglinie?
Nein. Aber es ist eine große Hilfe. Wenn ich als Unternehmen mein Alleinstellungsmerkmal in einer verlässlichen und schnellen Logistik sehe und gleichzeitig eine Unternehmensgröße habe, die fast auf Niveau kleinerer Volkswirtschaften oder Absatzmärkten liegt, dann mache ich mich nicht unnötig abhängig von Dienstleistern. Stattdessen baue mir meinen eigenen Dienstleister. Ich bin ja selbst ein ausreichend großer Kunde.

Nathan Zielke, 43, ist Managing Director der internationalen Logistikberatung Cullinan Consulting. Quelle: Privat

Was ist der Vorteil, das nicht länger anderen Express-Dienstleistern wie DHL zu überlassen?
Die höhere Zuverlässigkeit. Denn die in Frage kommenden globalen Partner DHL, FedEx oder UPS sind über Jahre hinweg dem Irrglauben unterlegen, dass Kunden noch immer eine hohe Leidenstoleranz haben, was Qualität betrifft. Entsprechend dachten sie, eine mitunter mäßige Qualität reicht aus – wie man aktuell im Weihnachtsgeschäft einmal mehr leidlich spürt. Damit haben sie selbst provoziert, dass Amazon es lieber in die eigenen Hände nimmt. 

Ist Amazon Air aus ihrer Sicht ein Erfolg?
Ja, ich halte das für strategisch richtig und erfolgreich. Ich sehe Amazon eher als Logistikkonzern denn als Warenhaus oder IT-Anbieter. Dank der Airline hat das Unternehmen nicht nur die volle Kontrolle über diesen zentralen Teil seiner Wertschöpfung. Es kann auch einen zeitgemäßen und voll digitalen Service aufbauen, völlig frei von den Kosten und Reibungsverlusten einer veralteten Technik. Gleiches gilt ja auch für die Amazon-Zustellflotte auf der letzten Meile. Das Ergebnis ist aus meiner Sicht als Kunde schon heute marktführend, zumindest bei kleinvolumigen Artikeln. Größere brechen oft das Prime-Versprechen, was marketing-technisch etwas heikel ist. 

Was macht Amazon anders als Wettbewerber?
Ihr voll digitales System ohne Altlasten gibt ihnen eine echte Kontrolle von Anfang bis Ende über den Produktionsprozess. Und selbst wenn Dienstleister immer noch Teile des Services übernehmen, agieren sie dennoch wie ein Teil von Amazon. Hinzu kommt ein schlaues Auslastungsmanagement. Amazon nutzt ja durchaus noch Drittanbieter auf vielen Wertschöpfungsstufen. Aber der Konzern hat dies penibel auf Spitzenlastzeiten reduziert und nutzt Dritte nur, wenn besonders viel Volumen vorliegt. Darum ist die eigene Kapazität stets maximal ausgelastet. Und die Auslastung ist in der Logistik nun mal seit jeher die zentrale Größe, die über Sieg oder Niederlage entscheidet. Dieses Cherrypicking ermöglicht Amazon perfekte Auslastungen, kombiniert mit extremer Planbarkeit der Nachfrageströme, der Saisonalitäten und der Entwicklung.

Können das Express-Dienstleister wie DHL & Co nicht auch?
Ja, aber nur begrenzt, da sie auf Datenzulieferungen ihrer (vielen) Kunden angewiesen sind. Und genau diese Insights nutzen Anbieter wie DHL noch viel zu wenig, hier wären pragmatischere Incentivierungen beispielsweise ratsam, um Kunden zum verstärkten Teilen ihrer Daten zu bewegen

Inzwischen haben auch andere wie die chinesischen Onlinehändler Alibaba oder JD.com ein eigenes Fluggeschäft. Hat bald jeder Händler eine eigene Airline?
Um das in dieser Form nachzumachen, muss ich als Unternehmen fast so groß sein wie Amazon. Das schafft in der westlichen Hemisphäre kaum ein Player in einem Markt. 

Trotzdem denken auch andere wie der US-Handelsriese Walmart, Ikea oder Coca-Cola nach den vielen Lieferengpässen der vergangenen Monate über ein eigenes Liefersystem nach.
Walmart könnte in der Tat ein Kandidat sein. Die könnten möglicherweise auch mit anderen Anbietern ein Logistik-Gemeinschaftsunternehmen gründen. Doch aktuell hat Amazon bereits einen deutlichen Wettbewerbsvorteil, der schwer einzuholen sein wird. Dass nun andere wie Ikea oder Coca Cola ebenfalls eigene Assets prüfen und etwa Schiffe anschaffen wollen, halte ich hingegen für heikel. Die haben in diesem Sektor keine entsprechende Expertise und es ist auch nicht nah am Kerngeschäft. Als kurzfristige Maßnahme gegen das aktuelle Lieferketten-Chaos kann eine temporäre Anmietung durchaus Sinn machen. Eine dauerhafte Vertikalisierung sehe ich aber kritisch, und halte sie auch nicht für erforderlich da die etablierten Prozesse außerhalb der aktuellen temporären und corona-induzierten Logistikkrise ausreichend gut funktionieren.  

Rechnet sich Amazon Air denn für den Konzern?
Das ist von außen schwer zu beurteilen. Generell gilt: Der Aufbau eines Netzwerks erzeugt immer einen enormen Anfangskapitalbedarf und führt erst später zu den entsprechenden Erträgen. Das kann ein börsennotierter Konzern oft nur schwer seinen Investoren erklären.

von Jacqueline Goebel, Rüdiger Kiani-Kreß

Bei Amazon hat das aber geklappt.
Das liegt unter anderem an der Shareholderstruktur von Amazon sowie an der Tatsache, dass Amazon über Jahre bewiesen hat, dass derartige Anlaufverluste langfristig strategisch sinnvoll sind. Ehrlicherweise muss man aber auch hier sagen: Ohne die Cloud-Sparte Amazon Web Services (AWS) als eine Art hausinterne Quersubventionierung hätten die Investoren die massiven Vorabinvestitionen vermutlich nicht so einfach unterstützt.

Was bedeutet Amazon Air für die Logistikbranche?
Den Verlust eines gigantischen Kunden. Parallel dazu ist das aber auch ein Verlust an Ehre. Schließlich kommt da ein Branchenfremder daher und zeigt den Routiniers mal eben in ein paar Jahren auf, wie man es besser machen kann.

von Henryk Hielscher, Matthias Hohensee, Silke Wettach

Wenn Amazon Air erfolgreich ist, werden die bald auch für andere fliegen?
Da bin ich vorsichtig. Es ist viel einfacher seinen eigenen Bedarf logistisch in die eigene Hand zu nehmen als ein weltweites Netz aufzubauen und die gebündelte und komplexe Nachfrage tausender Kunden qualitativ hochwertig zu bedienen. Beim jetzigen System pickt sich Amazon die Kirschen heraus und fliegt vor allem die Routen mit dem höchsten Bedarf, lastet sich selbst voll aus - und überlässt den Rest anderen Playern. Das ist brutal, aber schlau. Denn Amazon verdrängt seine Partner nicht, und für sie sind geringere Aufträge immer noch besser als keine Aufträge. Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass Amazon das initial für sich selbst entwickelte Logistik-Erfolgsmodell letztlich auch extern vermarktet – vielleicht sogar mit ähnlichem Erfolg wie bei AWS.

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