Kohleabbau Studienschlacht um Lützerath: Haben sich die Grünen verrechnet?

Am Samstag demonstrierten laut Polizei 15.000 Menschen am Rande des rheinischen Braunkohletagebaus gegen den Kohleabbau in Lützerath. Quelle: dpa

Der Kampf um Lützerath wird nicht nur auf der Straße ausgetragen – sondern auch auf Papier. Drohen ohne die Kohle, die unter dem Dorf liegt, die Lichter auszugehen? Das ist auch in Studien umstritten. Ein Überblick.

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Das Schicksal von Lützerath hängt von vielen Annahmen ab. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Braunkohle unter dem Weiler in Nordrhein-Westfalen benötigt wird, um die Versorgungssicherheit des Landes zu sichern. Klimaaktivisten wollen den Abbau verhindern – und verweisen auf eine Studie, nach der die Kohle aus dem Tagebau auch ohne die Reserven auf dem Gebiet von Lützerath reicht. Die Proteste rund um das Dorf haben den Untersuchungen neue Aufmerksamkeit verschafft – und Kritik an den Studien ausgelöst. Doch wie argumentieren ihre Autoren?

Im vergangenen Herbst hatten die Grünen mit dem Energiekonzern einen Deal ausgehandelt: Lützerath soll als letztes Dorf abgebaggert werden. Der Energiekonzern RWE wird dafür bereits 2030 aus der Kohle aussteigen, acht Jahre früher als ursprünglich geplant. Grundlage der Entscheidung ist unter anderem ein Gutachten des Büros für Energiewirtschaft und technische Planung (BET), welches das Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben hat. Das Ergebnis: Ohne die Kohle unter Lützerath fehlen mindestens 17 Millionen Tonnen Braunkohle. Sonst gibt es laut RWE keine „ausreichenden Kohlemengen“, um die Kraftwerke zu versorgen.

An dem Gutachten gibt es viel Kritik. Die Schätzungen der Gutachten sollen sich zu sehr an RWE-Daten orientieren und zudem unter großem Zeitdruck entstanden sein. Die Politik musste im Herbst schnell handeln, um im Winter eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten. Dazu kommt: Damit RWE die Kohle unter Lützerath abbauen kann, muss das Unternehmen die Bäume auf dem Gelände fällen. Die Rodungssaison endet im Februar. Sind bis dahin nicht alle Bäume beseitigt, kann der Konzern frühestens im Oktober mit dem Abbau der Kohle beginnen.

Gefakte Zahlen?

Klimaaktivisten, die das Dorf teilweise seit zweieinhalb Jahren besetzen, werfen den Grünen vor, mit „gefakten Zahlen“ von RWE zu argumentieren und fordern die Regierung auf, ihre Entscheidung zu überdenken. Die Klimaschützer verweisen unter anderem auf eine Kurzstudie der Europa-Universität Flensburg, der Technischen Universität Berlin und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Der Untersuchung zufolge reichen die Braunkohlemengen im schon genehmigten Abbaugebiet sogar dann, wenn von 2025 an der Kohleverbrauch noch einmal deutlich steigen sollte. RWE bestehe nur deshalb auf dem Abbau in Lützerath, weil sich die Kohle dort leichter und damit profitabler gewinnen lasse, so der Vorwurf der Klimaschützer.

Die verschiedenen Studienergebnisse begründet Andreas Löschel, Energieökonom und Professor an der Ruhr-Universität Bochum, mit den unterschiedlichen Annahmen, auf denen die Studien basieren. Gerechnet werde mit verschiedenen Prognosen zum künftigen Strombedarf, zur Preisentwicklung und zur Ausbaugeschwindigkeit bei den erneuerbaren Energien.

Die Aktivisten nerven mit ihren Posen des Widerstands, ihrer larmoyanten Selbstheroisierung, ihrem apokalyptischen Fieber – und erleichtern klimapolitischen Fossilien das Handwerk. Es ist ein Trauerspiel. Eine Kolumne.
von Dieter Schnaas

Doch Annahmen können sich ändern. Löschel kritisiert deshalb mit Blick auf sämtliche Studien: Es werde mit etlichen Annahmen gearbeitet. „Harte Aussagen sind schwer zu treffen.“ Es könne auch ohne die Kohle unter Lützerath klappen, aber dafür müsse einiges Positives zusammenkommen. In der aktuellen Ausnahmesituation könne er verstehen, dass man vorsichtig sei, auf Optionen zu verzichten. Die Entscheidung der Regierung bedürfe einer politischen Abwägung zwischen Klimaschutz, Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit: „Ich glaube, ob Lützerath bleibt oder nicht, ist eine Entscheidung, die sich nicht so einfach anhand von Studien entscheiden lässt.“

Klimaforscher Niklas Höhne fordert die Regierung auf, die Arbeiten in Lützerath zu stoppen und sich mit allen Beteiligten an einen Tisch zu setzen. „Ich gehe davon aus, dass die Entscheidung mit der jetzigen Informationslage anders ausfallen wird als noch im Oktober“, sagt der Professor. Sein Appell: „Das Ziel der Energiewende erreichen alle Seiten besser, wenn sie sich zusammentun.“ Der Konflikt, der sich aktuell zwischen Regierung und Zivilgesellschaft auftue, bestehe weit über Lützerath hinaus. „Es kommen noch zahlreiche Entscheidungen für die Klima- und Energiewende auf uns zu“, gibt der Professor zu bedenken. Diese müssten in Zukunft besser ablaufen.

Selbst Grüne zweifeln

Auch über die Frage einer möglichen CO2-Ersparnis wird gestritten. Durch den vorgezogenen Kohleausstieg von NRW sollen der Regierung zufolge 280 Millionen Tonnen Kohle im Boden bleiben. Obwohl erst mal mehr Kohle verbrannt wird, soll somit die CO₂-Bilanz letztlich deutlich verbessert werden.

Laut einer Studie des Energieberatungshauses Aurora wird der vorgezogene Kohleausstieg jedoch wenig zum Klimaschutz beitragen. Das Ergebnis der Untersuchung: Durch die kurzfristige Reaktivierung von Kohlemeilern wird bis zu 61 Millionen Tonnen CO₂ mehr ausgestoßen. Bis 2030 gibt es sogar eine Überschreitung des im Klimaschutzgesetz angedachten Emissionspfads um 164 Millionen Tonnen.

RWE hält sich derzeit mit öffentlichen Äußerungen zurück. Aus Unternehmenskreisen heißt es, die sinnlose „Studienschlacht“ nehme kein Ende. Sämtliche Untersuchungen basierten auf Annahmen und Zahlen, die nur unter Vorbehalt zu genießen seien. Aus dem RWE-Umfeld dringt auch immer wieder der Satz: „Die Politik hat entschieden.“

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Doch wie sicher ist diese Entscheidung noch? Ende letzter Woche hatten mehr als 2000 Grünen-Mitglieder einen offenen Protest-Brief unterzeichnet, in dem sie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und seine NRW-Amtskollegin Mona Neubaur auffordern, die Räumung sofort zu stoppen. Als Grünen-Mitglieder könne man die Räumung des Dorfes Lützerath weder verstehen noch hinnehmen.

Auch die Mehrheit der Deutschen ist gegen eine Ausweitung des Braunkohlegebiets. Nach einer Umfrage des ZDF-„Politbarometer“ sprachen sich 59 Prozent der Befragten gegen eine Ausdehnung aus, wie sie in Lützerath geplant ist – nur 33 Prozent sind dafür.

Lesen Sie auch: Wieso sich die Wut der Aktivisten hauptsächlich gegen die Grünen richtet

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