Nord Stream 1 Putin legt das Messer an die Gas-Schlagader

Anlandestation für Gas in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Dort kommt das Gas aus Russland über die Pipeline Nord Stream 1 an – wenn es denn kommt Quelle: dpa

Gazprom drosselt den Gasstrom durch die Pipeline Nord Stream 1 stärker als erwartet. Das ist mehr als eine Machtdemonstration Putins. Er nutzt seine letzte Chance, Deutschland und die Europäer mit der Waffe Erdgas zu schwächen – und hat den Winter im Blick. Ein Kommentar.

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Eine Gasturbine? Die in Kanada festhängt, wegen der Sanktionen? Deshalb muss der Gasstrom nach Europa gedrosselt werden? Echt?

Ja, alles möglich, alles denkbar, demnächst ist ja ohnehin eine Wartung der so wichtigen Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 geplant. Kann also passieren – auch wenn der Verdacht schon am Dienstag nahe lag, dass der russische Präsident Wladimir Putin Gas wieder als Waffe einsetzt. Diesmal nicht mehr, um den Europäern nur zu drohen, sondern um ihnen – und vor allem den Deutschen – massiv zu schaden.

Zur Gewissheit wurde der Verdacht, als Gazprom am Mittwoch mitteilte, dass man von Donnerstag an die täglichen Lieferungen leider nicht nur von 167 Millionen Kubikmetern auf 100 Millionen drosseln müsse, sondern sogar auf 67 Millionen. Leider verzögerten sich Reparaturarbeiten von Siemens, hieß es. Deshalb müsse eine weitere Gasverdichtungsanlage abgestellt werden. Der Gaspreis schoss daraufhin wieder in die Höhe. Erdgas mit dem Brennwert einer Megawattstunde (MWh) wurde am Mittwochnachmittag am niederländischen Handelspunkt TTF mit über 108 Euro gehandelt, nach 97 Euro am Vortag ein erheblicher Sprung. Am Mittwoch vergangener Woche lag der Preis noch bei 79,4 Euro. Die Bundesnetzagentur hatte die Gazprom-Behauptung, wonach das Gasverdichteraggregat das Problem ist, schon am Dienstag zurückgewiesen.

„Die Begründung ist schlicht vorgeschoben“

Robert Habeck, der Wirtschafts- und Klimaminister, hat recht, wenn er sagt: „Die aktuellen Meldungen zeigen deutlich: Die Begründung der russischen Seite ist schlicht vorgeschoben. Es ist offenkundig die Strategie, zu verunsichern und die Preise hochzutreiben.“ In der Tat setzt Putin sein Gas wieder als Waffe ein, so lange er dieses Druckmittel – vor allem gegen die Deutschen – noch in der Hand hat. Das Ziel sind zum einen höhere Preise, die Verbraucher und Unternehmen belasten. Zum anderen aber richtet sich der Blick Putins auf den nächsten Winter: Was die Deutschen jetzt nicht einspeichern können, fehlt ihnen in den kalten Monaten – und erhöht Putins verbleibende Macht.

Darüber hinaus ist mit dem erneuten Schlag auch eine Botschaft an Olaf Scholz verbunden, passgenau vor dessen Kiew-Besuch: Seid euch bewusst, an wessen Pipeline ihr hängt, lässt der Kreml wissen. Mit unfreundlichen Grüßen.

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von Florian Güßgen

Dass das alles kaltblütig geschieht, darf niemanden verwundern. Dass es parallel zum vergangenen Sommer passiert, ist bemerkenswert. Damals, im Spätsommer 2021, waren die niedrigen Füllstände der Gasspeicher – ja, gerade von dem in Rehden in Niedersachsen – die Vorboten eines russischen Angriffs auf den Westen. Ahnen konnte man das, sich sagen kaum. Vertragstreu war Gazprom ja. Nun, da die Speicher nicht mehr in Händen Gazproms sind, da Gazprom Germania unter Treuhandschaft der Bundesnetzagentur steht, ist es für den Kreml keine Option mehr, die Speicher still und heimlich leer stehen zu lassen. Russland muss den Hahn abdrehen – in aller Öffentlichkeit und möglicherweise demnächst mit Bruch von Verträgen.

Die Speicher stehen bei über 55 Prozent Füllstand

In Ansätzen ist das Abdrehen schon in den vergangenen Wochen erfolgt, als der Gasfluss durch die Ukraine reduziert wurde, weil der ukrainische Gaskonzern Naftogaz eine Teilpipeline wegen des Krieges nicht mehr bedienen konnte und wollte. Die Möglichkeit, die Mengen auf einem anderen, verfügbaren Weg über die Ukraine gen Westen zu schicken, hat Gazprom nicht genutzt. Nun also Nord Stream 1, die Schlagader des deutschen, des europäischen Gassystems. Putin legt das Messer an und drückt mit der Klinge schon mal zu, wie in einem drittklassigen Gangsterfilm. Gut möglich, dass er nur provoziert, dass das Gas in den nächsten Tagen wieder fließt. Gut möglich aber auch, dass er das Einspeichern in Deutschland durch ein weiteres Hin und Her gezielt verzögert – bei über 55 Prozent Füllstand stehen die Speicher derzeit insgesamt, Rehden bei über 8 Prozent. Er muss sich beeilen. Und so dürfte Gazprom das Angebot kaum annehmen, das die Ukrainer am Mittwochnachmittag verschickten: Lasst doch einfach wieder mehr Gas über die Ukraine fließen.

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Noch ist Gas verfügbar. Habeck sagt, die Mengen könnten „im Markt beschafft“ werden, wenn auch zu hohen Preisen. Der zentrale Akteur ist hier für die Bundesregierung der Marktverantwortliche, die Trading Hub Europe (THE). Und der Minister sagt: „Es wird aktuell noch eingespeichert“. Die Versorgungssicherheit sei gewährleistet. Aber man sei über die „Krisenstrukturen in engstem Austausch mit den relevanten Akteuren.“ Denn klar ist auch: Wenn Putin weiter am Hahn dreht, wird Habeck die „Alarmstufe“ des Notfallplans Gas ausrufen, ausrufen müssen. In der „Frühwarnstufe“ befinden wir uns schon. Falls der Markt dann in der Alarmstufen den Bedarf nicht mehr decken kann, muss Habeck in die Notfallstufe wechseln – dann wird die Bundesnetzagentur zum sogenannten „Bundeslastverteiler“ und muss bestimmen, wer wie viel kriegt.

In den USA fällt ein LNG-Terminal aus

Robert Habeck hat in der vergangenen Wochen viel getan, um Deutschland möglichst schnell unabhängig vom russischen Gas zu machen. Trips in die USA, nach Norwegen, nach Katar und Israel, um Flüssigerdgas, LNG, zu bitten. Schwimmende LNG-Terminals. Alles eingetütet, tatsächlich so gut es geht. Alles bekannt. Aber die Voraussetzung für einen sicheren Winter war immer, dass die Speicher voll sind, gemäß neuem Gesetz zu 80 Prozent im Oktober, zu 90 Prozent im November, und dass LNG in großen Mengen geliefert wird. In den USA, in Texas, fällt nun ein wichtiges LNG-Terminal nach einem Brand wochenlang aus. Das macht den Markt enger und treibt die Preise. Und Putin setzt jetzt alles dran, das Einspeichern zu erschweren. Es kann sein, dass der Notfall früher kommt als gedacht.

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