
Der Oberarm schwoll an und begann zu schmerzen. Theresa Müller, Mitte 50, wohnhaft in einer Kreisstadt im südlichen Sauerland, spritzt sich seit Jahren das Mittel Pegasys gegen Hepatitis C, eine Virusinfektion der Leber. Doch dieses Mal schlägt das Präparat des Schweizer Pharmakonzerns Roche nicht so an wie sonst. „Lokale Reaktion an der Einstichstelle mit Eibildung“, vermerkt ihr Apotheker in einem Meldebogen. Ursache unbekannt.
Einen Tag später, am 7. November 2013, bringt Müller die Spritze in die Apotheke. Der Pharmazeut stutzt. Statt einer Glasspritze, wie sie Roche normalerweise verwendet, enthält die Packung Pegasys Plastikspritzen; nicht wie üblich mit grauen, sondern mit schwarzen Schutzkappen und mit weißen statt mit roten Kolben. Zudem fehlt auf der Faltschachtel der Barcode. Der Apotheker fotografiert das ungewohnte Set, schickt die Spritze sowie das Präparat an Roche.
Wenig später kommt das Ergebnis: Die Packung Pegasys, 180 Mikrogramm/0,5 Milliliter, enthielt statt des Wirkstoffs gegen Hepatitis nur schnödes Wasser mit Kochsalz.
Horror für Patienten und Pharmaunternehmen
Theresa Müller aus Westfalen, die in Wirklichkeit anders heißt, ihren Namen aber nicht in der Presse lesen möchte, ist das Opfer krimineller Machenschaften, die für Patienten wie für Pharmaunternehmen den Horror bedeuten: gefälschte Arzneimittel, nicht aus dunklen Kanälen im anonymen unkontrollierbaren Internet, sondern aus dem Herzen des Gesundheitssystems, der Apotheke.




Nahezu jeden Monat werden neue Fälle bekannt, in denen Verdünntes und Verfälschtes in den Verkauf kommt – unter dem Siegel des Arzneikelches mit der Schlange, das für die Apotheken hierzulande steht. Die meisten Fälschungen dürften überhaupt niemandem auffallen. Viele Patienten und Ärzte kommen gar nicht auf die Idee, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes von einer gefälschten Medizin herrühren könnte, die sie am Ort ihres Vertrauens, in der Apotheke, erstanden haben.
„Dass gefälschte Medikamente vermehrt in Apotheken gelangen, ist der pharmazeutische Super-GAU“, sagt der Essener Zollermittler Jürgen R., „das ist Körperverletzung mit Todesgefahr.“
Zahlen zu gefälschten Medikamenten
Weltweit stehen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO etwa 15 Prozent der Arzneimittel unter Fälschungsverdacht. Die Fakes kursieren in 123 Ländern.
Besonders schlimm ist die Entwicklung in etlichen Regionen Afrikas und Asiens, dort wird die Einnahme von Medikamenten fast zum Glücksspiel. Bis zu 30 Prozent der Tabletten und Ampullen enthalten in Asien keinen oder einen falschen Wirkstoff, in Afrika zuweilen bis zu 50 Prozent.
In den westlichen Industrieländern sowie in Japan dürfte bis zu ein Prozent der Medikamente gefälscht sein. Die Bedrohung hat zugenommen, seit aus italienischen Kliniken zunehmend Medikamente gestohlen wurden und über Osteuropa vorwiegend nach Deutschland gelangten. Die Apennin-Halbinsel gilt wegen der Mafia als das Herkunftsland für gefälschte Arzneimittel hierzulande.
Insgesamt, so schätzt die Beratung Deloitte, dürften die organisierten Kriminellen mit Medikamenten-Fälschungen jährlich und weltweit zwischen 75 und 200 Milliarden Dollar einnehmen.
Alarmierte Behörden
Deutschlands Behörden sind alarmiert. Auf „noch unter ein Prozent“ schätzt Walter Schwerdtfeger, bis Ende Juli Deutschlands oberster Arzneiprüfer beim Bonner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), den Anteil gefälschter Präparate in deutschen Apotheken und Kliniken. Im Klartext: Nahezu jedes 100. Medikament von hier könnte manipuliert sein. Und die Liste der bisher erkannten Fälle wird immer länger:
- Im August und September 2013 tauchten Fälschungen des Pfizer-Krebsmittels Sutent in deutschen Apotheken auf. Das Präparat enthielt keinen Wirkstoff; es war ursprünglich für den rumänischen Markt produziert und vom Importeur CC Pharma aus der Eifel auf den Markt gebracht worden. Einem Patienten war aufgefallen, dass Kapseln und Pulver eine andere Farbe hatten als sonst.
- Im April 2014 wurde offenbar, dass Unbekannte Zehntausende Medikamente aus italienischen Kliniken gestohlen haben. Über dubiose Zwischenhändler in Osteuropa gelangten die Arzneimittel teilweise manipuliert überwiegend nach Deutschland. Insgesamt 82 verschiedene Präparate waren betroffen, darunter 2049 Packungen des Brustkrebsmittels Herceptin sowie 1670 Packungen des Darmkrebs-Präparats Avastin, beide von Roche. Auch Rheumapräparate sowie das Lungenmittel Spiriva von Boehringer Ingelheim und die Krebsarznei Erbitux von Merck gehörten dazu.
- Im Mai 2014 lieferte in Berlin ein Patient, der sich nicht zu erkennen gab, eine Fälschung des Wachstumshormons Norditropin des dänischen Herstellers Novo Nordisk in einer Apotheke ab.
- Im Juni 2014 warnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vor Fälschungen des Krebsmittels Sutent des US-Pharmakonzerns Pfizer.
- Im Oktober 2014 schließlich schlug das Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland für die Kontrolle der Impfstoffe und Biopräparate zuständig ist, wegen möglicher Manipulationen einer Charge des Darmkrebsmittels Avastin „rumänischen Ursprungs“ Alarm. Hersteller von Avastin ist Roche. Die Fläschchen hatte ein deutscher Importeur von einem rumänischen Großhändler bezogen. Auffällig war unter anderem, dass die Packungen fester verklebt waren als üblich.