Essay Wer Heimat einzäunt, hat nichts von ihr verstanden

Quelle: imago images

Die Wirtschaft wächst und wächst – und mit ihr das Unbehagen an der Grenzenlosigkeit des Kapitalismus. Aber warum macht „Heimat“ in Deutschland wieder Karriere als volksnationaler Kampfbegriff und verteidigungspolitisches Projekt? Plädoyer für das Paradox einer weltoffenen Bodenständigkeit.

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Zu den wunderbarsten Richard-Wagner-Halbstunden gehört der Auftakt des dritten Aktes des „Tannhäuser“: Elisabeth liegt betend ausgestreckt „vor dem Muttergottesbilde“, der gute Wolfram steigt „einsam aus wald’ger Höh“ herab – und ein Chor von heimkehrenden Rompilgern stimmt an, demutsvoll und flüsterleise, eine schöne, „fromme Weise“: „Beglückt darf nun dich, o Heimat, ich schauen / und grüßen froh deine lieblichen Auen ...“ So berührend, empfindsam und seelenvoll hat seither vielleicht niemand mehr ausgedrückt, was man in Deutschland idealerweise unter „Heimat“ versteht: ein transzendentales Gefühl innerer Verbundenheit.

Wagners lyrischem Heimatgefühl der Tiefe und Weite ist alles Flache und Enge fremd – weshalb uns die politischen Prosafassungen des Heimatbegriffs naturgemäß deprimieren. Angela Merkel etwa, die Bundeskanzlerin, versteht unter Heimat ein „offenes Angebot des gemeinsamen Gestaltens unserer Gesellschaft“, also eine Art Legoland für herkunftsunabhängige Sozialbaumeister: Ihre Heimat ist so beliebig wie ihre Politik.

Auch für die Grünen soll Deutschland allen Deutschen eine Heimat sein, multikultibunt integrativ, tolerant und typenoffen – grenzenlos diversity-deutsch. Die AfD wiederum, ganz im Gegenteil, inflationiert den Gebrauch scheinidentitärer Personalpronomina („Wir werden uns unser Land und unser Volk zurück holen“), damit „Heimat“ in Deutschland wieder Karriere macht als völkisches Symbol – als weltanschaulicher Kampfbegriff mit Dekretfunktion und Bekenntnischarakter.

Frank-Walter Steinmeier hat daher bereits vor einem Jahr gewarnt, die „Sehnsucht nach Heimat, nach Sicherheit, Entschleunigung, Zusammenhalt und Anerkennung“ den Nationalisten zu überlassen. Nur hat auch er, der Bundespräsident, dabei zusammengezwungen, was nicht zusammengehört: das affektive Verlangen nach Umfangenheit und Resonanz einerseits, das sich an so unterschiedliche Dinge wie Wagneropern und Schillergedichte, Schützenfeste und Tannenwälder, Kindheitserinnerungen und Grundgesetzartikel knüpfen kann – und die Aufgabe der Regierenden andererseits, möglichst günstige Voraussetzungen für das soziale Miteinander von 80 Millionen Deutschen und Ausländern zu schaffen.

Es ist daher auch falsch, dass Steinmeier in derselben Rede nicht vor der Ideologie, sondern vor „dem Blödsinn von Blut und Boden“ gewarnt hat – gerade so, als seien Verwandtschaft und territoriale Herkunft, nur weil die Nationalsozialisten sich beides ideologisch anverwandelt haben, keine wichtigen Quellen gelingender Identitätsbildung. Stattdessen hätte Steinmeier sagen müssen, dass er sich jede politische Definition und Ausbeutung dessen, was „Heimat“ sein zu sollen habe, verbittet – zumal als Präsident einer Nation, die die Grenzen dessen, was sie alles beheimaten soll, im 20. Jahrhundert sehr weit ausgelegt hat. Dass die Deutschen ihr Land als Heimat lieben und dieser Heimat als Staat misstrauen, gehört seither nicht zu ihren schlechtesten Eigenschaften.

Ungeachtet dessen hat die Verschmelzung von Heimat und Politik als Heimatpolitik in Berlin inzwischen teuer Gestalt angenommen. Die Regierenden haben registriert, dass in Deutschland „verbreitet das Gefühl herrscht, mehr und mehr abgehängt zu werden“, und zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ein „gesamtdeutsches Fördersystem für strukturschwache Regionen“ erfunden. Früher nannte man so was Struktur- und Sozialpolitik und stritt in wirtschaftsliberalen Kreisen ihre Vorteile ab. Heute rahmt man die Ergebnisse einer unterlassenen Struktur- und Sozialpolitik kraftnational und kümmerpathetisch, um alle volksparteilich Heimatvertriebenen wieder für die parlamentarische Demokratie zu gewinnen.

Die Mutter aller Heimatlosigkeitsprobleme

Für Horst Seehofer ist, von Merkel einmal abgesehen, „das Projekt der Globalisierung“ die Mutter aller Heimatlosigkeitsprobleme. Er stellt den „Entgrenzungen“ der Wirtschaftswelt, dem „ungeheuren Veränderungstempo“ und der „Marktgläubigkeit“ eines „ökonomisierten Denkens“ das Bedürfnis nach Gemeinschaft und kultureller Identität entgegen, das Verlangen nach Zusammenhalt und Zugehörigkeit, nach Tradition und Bewahrung, nach Ortsgebundenheit und Orientierung – kurz: nach Heimat.

Damit gelangt Seehofer, spät und auf deutlich abgeflachten Wegen, zu einer Einsicht, die der Schriftsteller Rüdiger Safranski uns bereits vor 28 Jahren, auf dem Höhepunkt liberaler Globalisierungsfantasien, vor Augen gestellt hat: „dass Mobilität und Weltoffenheit durch Ortsfestigkeit ausbalanciert werden muss“. Damals stand alles Zugehörige, Verbundene, Nestwarme in scharfem Kontrast zum Aufbruchs- und Entgrenzungseifer der Modernisierungseliten. Zur Signatur der Zeit gehörten Wachstum und Wagnis. Die alchemistischen Geldschöpfer der Wall Street. Der Enthusiasmus, mit dem deutsche Manager von ihren Stippvisiten in Shanghai heimkehrten, um den fehlenden Biss der Deutschen zu beklagen, ihre mangelnde Bereitschaft zum Jubelsturz ins Morgen. Eine deutsche Zukunft gab es damals nur jenseits seiner Grenzen. Und ein „Heimathafen“ war nur als Umschlagplatz für die Exportindustrie denkbar.

So viel Ortsvergessenheit rächt sich heute. Klimawandel, Finanzkrise, Migration – die globalen Probleme der Menschheit verlangen Grenzen und Schranken, Regeln und Restriktionen – nach Geborgenheit in der Ungeborgenheit. Das Problem: Eine Wurzel ist schnell herausgerissen. Neue Wurzeln schlagen – das dauert. Und vor allem: Wie hat man sich diese Wurzeln in der flüchtig-beschleunigten Mobilitätsmoderne vorzustellen?

Für die Weltbürger der Linken und Grünen stellt sich die Frage nicht. Sie dekretieren: „Heimat ist ein ausgrenzender Begriff“, der keine Antworten auf die planetarischen Herausforderungen unserer Tage bietet. Offenbar gefallen sie sich so sehr in der Vorstellung, internationale Luftwurzelwesen zu sein, dass ihnen gar nicht auffällt, wie sehr sie den Libertären und Ultrareichen gleichen, die ihr Recht auf Unbehaustsein vielleicht nicht lebenskulturell, wohl aber steuerpolitisch wahrnehmen.

Für Seehofer wiederum ist „Heimat“ heute vor allem ein verteidigungspolitisches Projekt gegen die Übergriffigkeit des Liberalismus und Kapitalismus: Er deutet Ordnungspolitik zur Heimatpolitik um („Heimatbezogene Innenpolitik wird sich auch dem Austarieren von Markt und Staat widmen.“). Er deutet Sozialpolitik zur Heimatpolitik um („Heimat beginnt in den eigenen vier Wänden. Die Entwicklung der Mieten und des Wohneigentums ist das brennendste soziale Problem.“). Und er will unter Heimat vor allem eine „kulturelle Identität“ verstanden wissen, die um das „Menschenbild des aufgeklärten Christentums“ zentriert ist.

Richtig daran ist, dass Heimat nur als Heimat empfunden werden kann, wenn sie akzentuiert und begrenzt ist. Wenn sich SchriftstellerInnen wie Safranski, aber auch Monika Maron, Martin Mosebach und Botho Strauß in ihrer Kritik der Migrationspolitik um das „Nationale“ sorgen, bedeutet das nicht, dass sie das Fremde und Andere ablehnen, sondern in Sorge um das Desinteresse am Eigenen, an einem „Land ohne Eigenschaften“ (Mosebach) sind: Wohinein, bitte schön, sollen Migranten integriert werden, wenn die Deutschen keine Verbindung mehr zu ihrer Vergangenheit haben, nicht mehr im Gespräch mit sich selbst sind über ihre religiöse, kulturelle, politische Identität? Eine solche Frage ist legitim – nicht zuletzt, weil jede Individuation aus Differenzbildung besteht: Man muss anders als andere sein, um überhaupt sein zu können.

Richtig ist aber auch (und heute mehr denn je), dass wir „kulturelle Mischlinge“ sind, dass „unsere Identitäten nicht mehr kernartig, sondern straußartig“ verfasst sind, so der Philosoph Wolfgang Welsch: dass wir transkulturelle Wesen sind, geprägt von Einflüssen, die die Dominanz der „nationalen Kulturfiktionen“ des 19. Jahrhunderts überlagern. Anders gesagt: „Heimat“ lässt sich nicht lokalisieren. Sie wurzelt paradoxerweise in Heimatlosigkeit, genauer: in der Unbestimmtheit einer lebenslang fluiden Identität, die sich dem Reichtum von Herkünften, Traditionen, Begegnungen, Erfahrungen, Reisen, Gedanken, Lektüren und Erinnerungen verdankt.

Je grenzenloser dieser Reichtum, noch so ein Paradox, desto stärker das Heimatgefühl. Denn Heimat ist nur als verlorene Heimat begreifbar. Ein Baby wird dem Mutterleib entrissen, lernt sich als Person schätzen – und sehnt sich zurück nach uteriner Geborgenheit. Ein Kind wird in der Pubertät ein zweites Mal geboren, indem es sich eine Heimat jenseits der Eltern erschließt – und seinem Elternhaus doch nie entkommen wird. Anders gesagt: Es gibt keine Heimat ohne Heim- und Fernweh, ja: Von Heimat kann nur sinnvoll sprechen, wer laufend unterwegs ist. Wer Heimat als Idyll nicht nur einzäunt, sondern auch flieht. Wer global bodenständig denkt – und grenzenlos erdverbunden handelt.

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