Patentwüste Deutschland „Nur weil wir mit Legosteinen aufgewachsen sind, dürfen wir den Wert der immateriellen Welt nicht ausblenden“

Quelle: Getty Images

Der führende Experte für geistiges Eigentum, Alexander Wurzer, warnt davor, dass Mobilfunk-Patente auf die deutsche Industrie wie ein Abführungsvertrag wirken. Manager verstünden nicht, wie man mit ihnen strategisch Marktmacht aufbaut.

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Alexander Wurzer ist Professor für IP-Management, der Lehre vom professionellen Umgang mit geistigem Eigentum. Er warnt vor Blauäugigkeit in deutschen Vorstandsetagen, was das Thema standardessentielle Patente angeht. Die meisten deutschen Konzerne und Mittelständler sind hier blank. Doch wenn sich das Internet der Dinge durchsetzt, werden Lizenzgebühren fällig, die die Gewinne der hiesigen Industrie empfindlich treffen würden. Nur eine rasante Professionalisierung nach Chinas Vorbild könne Abhilfe leisten.

Herr Prof. Dr. Wurzer, ist uns Deutschen die gesamte Tragweite des Patentsystems klar?
Alexander Wurzer: Vorstände selbst großer Unternehmen unterschätzen die Relevanz. Sie kennen sich im Patentsystem nicht gut aus, und dadurch entstehen ihnen Nachteile. Genau wie jemand, der sich bei der Steuererklärung nicht optimal beraten lässt, am Ende mehr Steuern zahlt. Viele Entscheider erliegen zum Beispiel dem Irrglauben, dass man etwas produzieren oder selbst entwickelt haben muss, um ein Patent anzumelden.

Mercedes und VW wurden von deutschen Gerichten gezwungen, 4G-Lizenzverträge abzuschließen zu Konditionen, mit denen sie nicht einverstanden waren.
Das war erst der Anfang. Für 5G wurden jetzt schon mehr als 20.000 Patentfamilien deklariert, die für den Standard essenziell sind. Wer den Standard in seinem Produkt oder in seiner Produktion verwenden will, braucht Lizenzen auf jedes einzelne dieser Patente. Zusätzlich wurden weltweit schon weitere 150.000 Patente für auf 5G basierende Anwendungen angemeldet – vom Smart Grid bis zur Smart Factory. Letzteres ist eine Spekulation auf die 5G-Welt der Zukunft – das nennt man strategisches Patentieren.

Zur Person

Worum geht es da?
Google etwa meldete ganz viele Patente auf Software rund um vorsorgliche Wartung und Konditionsüberwachung an. Die treffen Deutschland als Fabrikausrüster der Welt im Kern. Ein Rund-um-die-Uhr-Betrieb einer Fabrik bringt höchste Produktivität, Stillstand wird nicht mehr geduldet. Ein Mix aus Sensoren und künstlicher Intelligenz überwacht Maschinenteile. So werden sie schon ausgetauscht, ehe sie versagen, um Wartungszeiten so gering wie möglich zu halten.

Google meldet also Patente auf eine Technologie an, die es weder einsetzt, noch Kunden anbieten will?
Es ist gängige Patentpraxis, sich vorteilhafte Verbietungsrechte zu sichern, um damit Geschäftsinteressen durchzusetzen. Google hat analysiert, wozu die deutsche Industrie ihre Cloud gebrauchen kann – und ist dabei auf Maschinendaten gekommen. Inzwischen haben alle Cloud-Anbieter, also auch Microsoft und AWS, Patentportfolios aufgebaut, deren Nutzungsrechte sie ihren Kunden mit ihrem Cloudvertrag gewähren. AWS sichert seinen I-Cloud-Kunden zum Beispiel auch Hilfe bei potenzieller Verletzung von Patenten Dritter zu. Patente sind ein riesiges Thema, wenn es um Marktkontrolle geht.

Wie groß ist das Problem? Gibt es eine Schätzung, wie viel die deutsche Industrie künftig für Lizenzen zahlen muss?
Die Dimension des Problems kann man gar nicht übertreiben. Es ist ein wahrhaftig großer Effekt – den kann man zahlenmäßig noch gar nicht abbilden. Alles, was wir digital konsumieren, wird künftig mit Lizenzgebühren behaftet sein – das funktioniert wie ein Gewinnabführungsvertrag. Kochen konnte man bisher manuell ausführen – dazu bedarf es keines Patents. Aber Thermomix zum Beispiel digitalisiert das Kochen, da lade ich ein Rezept aus dem Internet herunter, das letztlich eine Maschinensteuerung ist. Dabei werden Patente berührt, Lizenzzahlungen fällig. Die digitale Transformation potenziert die Wirkung von geistigem Eigentum. Das führt zu einem regelrechten Umverteilungsprozess.

Gibt es ein Beispiel für eine Branche, die das schon durchlebt hat?
Die LED-Industrie hat das Thema schon komplett durchgezogen. Da gab es jahrelange Patentstreits zwischen verschiedenen Patentinhabern. Das Kernproblem der Branche: LED-Leuchten mit 1000 Stunden Nutzungsdauer machen das alte Geschäftsmodell von Osram oder Philips, jedes Jahr neue Glühbirnen zu verkaufen, obsolet. Signify, wie der Geschäftsbereich „Lighting“ von Philips jetzt heißt, erkannte, dass es in Zukunft nicht um LED an sich geht, sondern um deren Anwendungen. Entsprechend baute es ein Patentportfolio rund um Use Cases auf. Dann zog Signify zehn Jahre lang einen intensiven Patentkampf gegen die Lichtbranche vor Gericht durch. Das war teuer, aber es lohnte sich: Inzwischen erwirtschaften die Holländer jährlich 5,5 Milliarden Euro mit dem Auslizensieren von Use Cases für Licht.

Alexander Wurzer ist der führende Experte für geistiges Eigentum in Deutschland. Quelle: Privat

Also nicht etwa mit ihrem Produkt, LEDs, selbst?
Die LED-Hardware selbst ist unrentabel. Aber Signify hält die Patente an vielen Innovationen, wie man LED-Licht einsetzt, etwa für eine Software zur präzisen Aufzucht von Pflanzen mit LED-Licht. Das ist unfassbar lukrativ. Praktisch jeder in der Branche zahlt Lizenzgebühren an Philips.

Das ist also das Vorbild der Mobilfunkbranche. Mercedes konnte sich vor Gericht nicht gegen Nokia wehren. Auch VW und Ford beugten sich unter gerichtlichem Druck.
Beim Mercedes-Prozess ging es um die Frage, wer in der Wertschöpfungskette die Lizenzgebühr bezahlen muss. Das macht einen riesigen Unterschied. Gemessen am gesamten Wert eines Autos ist die Lizenzgebühr von 15 Euro wenig, aber eigentlich ist das Kommunikationsmodul (CCM), in dem der Chip sitzt, nur 100 Euro wert. Da geht es um die Frage, ob  die Lizenzgebühr 0,06 Prozent oder 20 Prozent eines Produktwertes ausmacht. Das deutsche Recht regelt sehr eindeutig, dass eine SEP-Lizenz über die gesamte Wertschöpfungskette angesetzt werden kann – und dass der Lizenzgeber sich aussuchen kann, wen er lizensiert.

Das ärgert die Zulieferer sehr. Dabei sind sie doch eigentlich fein raus, wenn die Autohersteller die Lizenzkosten selbst zahlen.
So einfach ist das nicht. Es gab einen Fall, wo ein französisches Unternehmen einen deutschen Automobilzulieferer für Connected Car Module aufkaufen wollte. Bei der Due Diligence kam heraus, dass die Deutschen keine Mobilfunk-Lizenz für ihr Produkt besaßen – mehr noch, sie hatten sich nicht einmal um eine Lizenz bemüht. Das führte dazu, dass der gesamte Deal rückabgewickelt wurde – denn 10 Euro Lizenzgebühr auf ein 100-Euro-Modul zu zahlen, hätte den gesamten Gewinn aufgefressen.

Die Autobranche ist aktuell am heftigsten betroffen von den Mobilfunk-Patent-Prozessen. Müsste sich die übrige deutsche Industrie nicht auch Sorgen machen?
Sie erwischt es extrem. Es ist offensichtlich, dass sie sehr leicht angreifbar sind. Die Mobilfunk-Patentinhaber und Verwertungspools können dieses Spiel für die gesamte deutsche Industrie durchexerzieren. Aktuell schon wird jedes Objekt mit IoT-Funktionalität ausgestattet. Selbst Biergläser von Rastal kommunizieren mit dem Handy und brauchen eine Lizenz. Alle Produkte werden miteinander kommunizieren, und das berührt standardessenzielle Patente. Durch die digitale Transformation werden Lizenzen darauf zu einem flächendeckenden Phänomen. Das Problem in seiner Dimension ist sehr vielen noch nicht bewusst.

Wie kann das sein? Auch im Anlagen- und Maschinenbau hat man es ja seit jeher mit Patenten zu tun.
Für viele Anlagenbauer sind Patente eher ein lästiges Übel, mit dem sie sich nur widerwillig beschäftigen. Das wird in einer digitalisierten Welt zu einem Problem ungeahnten Ausmaßes – denn Lizenzgebühren werden die Profitmargen dramatisch beschneiden. Da muss die deutsche Industrie eine riesige Professionalisierung durchlaufen, damit sie in der neuen Liga mitspielen kann. Selbst Mittelständler mit mehreren Milliarden Umsatz sind sich der Dimension des Problems für ihre eigenen Geschäftsmodelle oft nicht bewusst.

Gibt es eine Möglichkeit, statt 5G einen anderen Weg der digitalen Kommunikation zu nutzen? Zum Beispiel Wlan 6 oder den alten Telefoniestandard DKT2020?
Das wahre Problem ist sogar größer als 5G. Jedes Kommunikationssystem im Internet der Dinge wird mit standardessenziellen Patenten belegt sein, dem kann man nicht ausweichen. Die Digitalisierung kann man nicht umgehen. Um in der digitalisierten Welt wettbewerbsfähig zu bleiben, brauchen wir viel mehr Kompetenz in Fragen rund ums geistige Eigentum, als wir sie heute haben. Das hat eine große geopolitische Dimension. Deutsche Unternehmen müssen lernen, wie sie selbst gewinnbringende Patentportfolios rund um Ihre digitalen Ansätze wie Use Cases, Customer Journeys und Geschäftsmodelle aufbauen. Sie müssen Patente zu einem Faktor in ihrer Digitalisierungsstrategie machen. Aber zunächst mal müssen sie ihr Problem überhaupt erkennen.

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