
An guten Tagen ist die Aussicht aus der 20. Etage der Ergo-Zentrale in Düsseldorf atemberaubend, sie reicht dann den Rhein hinunter fast bis nach Köln. Allzu viele Mitarbeiter der Versicherung haben bisher nichts davon. Denn etliche Räume in den oberen Etagen des gläsernen Büroturms stehen noch leer. Ergo-Chef Markus Rieß will das ändern.
Der Mann ist ehrgeizig. Bis vor eineinhalb Jahren leitete er das deutsche Geschäft der Allianz, eigentlich wollte er gern an die Spitze des Münchner Konzerns rücken. Allianz-Chef aber wurde Oliver Bäte. Bei der deutschen Nummer zwei will Rieß zeigen, dass er es auch gut, wenn nicht sogar besser kann.
Besser werden kann es auf jeden Fall. Im vergangenen Jahr schrieb die Ergo tiefrote Zahlen. Ihr Chef will ausmisten, aufräumen, mit frischen Leuten für frischen Wind sorgen. Das behäbige Unternehmen soll zu einem modernen, coolen und – natürlich – total digitalen Dienstleister werden, der seine Kunden begeistert. Das ist der Plan.
Versicherungs-Chinesisch: Wie Sie Ihren Bescheid richtig lesen
Sie zeigt zum Stichtag (zum Beispiel "Stand 01.06."), was gezahlt wird, wenn der Versicherte bis Vertragsende durchhält, wenn er vorzeitig kündigt oder falls er stirbt.
Ergebnis aus den mit dem Garantiezins verzinsten Beiträgen. Angelegt und verzinst wird nur der Sparanteil der Beiträge. Der bleibt übrig, nachdem Vertriebs- und Verwaltungskosten abgezogen wurden. Bei guten Versicherern werden 80 Prozent der Einzahlungen als Sparanteil angelegt und verzinst, bei teuren nur 60. Was garantiert ist, hat der Kunde sicher, wenn er den Vertrag bis zur Fälligkeit behält.
Erwirtschaften Versicherer mit Kapitalanlagen mehr als den Garantiezins, gibt es für den Kunden noch etwas oben drauf. Von den Zinsüberschüssen müssen sie mindestens 90 Prozent an die Kunden auszahlen. Im Bescheid steht der Betrag als garantierte Leistung aus Überschussbeteiligung. Von Gewinnen, die darüber hinaus entstehen, wenn der Versicherer etwa die Verträge günstiger führt als zuvor berechnet, fließen maximal 75 Prozent in die Überschussbeteiligung. Aus Überschüssen, die den Kunden zustehen, speisen sie auch die Zinszusatzreserve. Die Branche bunkert dort aktuell 13,3 Milliarden Euro. Jetzt ausgezahlte Verträge profitieren davon nicht. Wenn weitere Überschüsse bleiben, dürfen die Versicherer ihr Grundkapital mit mindestens vier Prozent verzinsen. Das passiert derzeit selten.
Garantiert dem Kunden gutgeschrieben wird ein Teil der jährlichen Überschüsse, den Rest hält der Versicherer bis Vertragsende in der Kasse. Diese Leistung wird oft auch Schlussgewinn genannt. Dessen Höhe ist nicht gesetzlich geregelt. Verträge mit hohem Garantiezins haben oft magere Schlussgewinne, die bei Kündigung wegfallen können.
Die Summe bekommen Kunden, die kündigen, zum angegebenen Stichtag. Der genannte Betrag im Bescheid ist garantiert, der Rest sind unverbindliche Beteiligungen an Überschüssen.
Sie entstehen durch Kursgewinne auf die vom Versicherer gehaltenen Wertpapiere. In einem Beispielfall stellte die Versicherung sieben Monate vor Wirksamwerden der Vertragskündigung noch eine Schlusszahlung aus Bewertungsreserven in Höhe von 6629 Euro in Aussicht. Mit der Kündigung zum 1. Januar 2014 schrumpfte der Betrag auf 4896 Euro. Ob das in Ordnung geht, kann nur die Aufsicht BaFin nachrechnen. Tipp: Wenn Sie Ihren Versicherer nach dem "Sockelbetrag" und dem "volatilen Anteil an den Bewertungsreserven" fragen, kann er sie nicht mit pauschal zu niedrigen Werten abspeisen.
Gut finden den nicht alle. Die Beharrungskräfte sind beträchtlich, in manchen Büros geht es zu wie in der TV-Serie „Stromberg“. „Da fällt um fünf Uhr der Griffel“, stöhnt einer, der neu zum Management gestoßen ist. Manche Mitarbeiter ließen es gern geordnet und gemütlich angehen. Deshalb hätten sie sich den Job ja auch ausgesucht.
Nun aber soll bei Ergo und anderen Versicherern auf einmal alles ganz schnell gehen. Sie wollen in die digitale Welt aufbrechen, lockern interne Strukturen, beschleunigen Abläufe, kooperieren mit Start-ups, schaffen die Krawattenpflicht ab und gründen Ableger in Berliner Hinterhöfen. Doch kaum eine Branche tut sich mit dem Wandel so schwer. Die Strukturen sind starr, vor allem aber haben die Versicherer den Trend erst spät entdeckt. Nun wollen sie Versäumtes nachholen, aber leicht wird das nicht. Sie drohen Geschäft an Wettbewerber zu verlieren, die früher angefangen haben.
„Die Versicherer haben sehr lange sehr gut verdient“, sagt Christian Mylius, Versicherungsexperte und Partner der Beratungsgesellschaft EY Innovalue in Hamburg. Deshalb beschäftigten sich etliche erst seit dem vergangenen Jahr ernsthaft mit der technologischen Revolution. „Viele Versicherer sind behäbig und langsam“, findet Mylius.
Der Druck ist groß, das zu ändern. Immer mehr Kunden schließen Policen über Computer, Tablet und Smartphone ab. Laut einer aktuellen Studie der Münchner Beratung Bain & Company informieren sich bereits 33 Prozent aller Befragten über Sachversicherungen auf digitalen Kanälen, 22 Prozent schließen die Versicherung auch online ab. Selbst bei komplizierteren Produkten wie Lebensversicherungen erkundigen sich 21 Prozent der Befragten digital, 13 Prozent zeichnen die Police online.
Außerdem belasten die niedrigen Zinsen das Geschäft, die klassische Lebensversicherung ist bereits so gut wie tot. Ergo, Allianz und Co. müssen Alternativen finden, Kosten senken, digital auf ihre Kunden zugehen. Und dabei erkennen, dass diese mehr sind als abstrakte Wesen, die einmal im Jahr Post vom Vertreter bekommen oder gelegentlich in dessen Agentur vorbeischauen.