Ende der Homeofficepflicht „Das Gerede von der Rückkehr zur Normalität ist absurd“

Schwindende Verbindung zum Arbeitgeber bei Homeoffice forever Quelle: Getty Images

Die Homeofficepflicht fällt, die Probleme bleiben. Unternehmen müssen nun nicht nur die Balance zwischen Gesundheitsschutz und der Rückkehr ins Büro meistern. Sie brauchen Konzepte, um diejenigen zu halten, die auch künftig lieber zu Hause arbeiten wollen.

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Um einfach vor sich hin zu arbeiten, kommt beim Schreibwarenhersteller Edding kaum noch jemand ins Büro. Das wird sich auch nach dem Ende der Homeofficepflicht nicht ändern. „Zukünftig hat die Präsenzarbeit bei Edding einen anderen Charakter“, sagt René Freyer, Personalchef beim Familienunternehmen aus dem holsteinischen Ahrensburg. Die Büros würden vor allem zur Einarbeitung neuer Kollegen und Workshops, für kreative Zusammenkünfte oder abendliche Veranstaltungen genutzt. Zurück an den angestammten Schreibtisch muss niemand, wenn er nicht will. Schon seit November vergangenen Jahres dürfen die kaufmännischen Mitarbeiter von Edding jederzeit mobil arbeiten – und das soll auch so bleiben.

Auch wenn Eddings Ansatz radikaler ist als der vieler anderer Unternehmen, so gibt es doch vielerorts die Einsicht, dass sich seit Beginn der Coronapandemie nicht nur die Gewohnheiten der Mitarbeiter, sondern auch die Arbeitsabläufe geändert haben. Mit dem Ende der Homeofficepflicht zeigt sich nun, wer dies bloß zur Kenntnis nimmt und wer daraus tatsächlich Konsequenzen zieht.

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Organisationsberater Axel Gundolf, der vor allem bei kleineren und mittleren Unternehmen im Einsatz ist, hört immer noch zu häufig das Gerede von der Rückkehr zur Normalität. „Das ist absurd. Es wird nicht mehr wie vor der Pandemie sein.“ Und auch die im Lichte hoher Infektionszahlen diskutierte Frage, wie viel Büro tatsächlich nötig ist, ist seiner Meinung nach nur ein kleiner Teil der großen Herausforderungen, vor der Arbeitgeber nun stehen. Denn es geht um viel mehr. Wer sich jetzt zum Homeoffice bekennt, muss mehr tun als Technik zur Verfügung stellen und den virtuellen Kaffee preisen. Denn das Büro scheint trotz seiner antiquierten Anmutung ein Ort der Identifikation.

7 Gründe, endlich wieder ins Büro zurückzukehren
Wenn Sie im Homeoffice ein paar Kilo zugelegt haben, können wir Sie beruhigen: Sie sind nicht allein! Ein Drittel der Beschäftigten hat während der Arbeit im trauten Heim mehr als drei Kilogramm dazugewonnen, zeigt eine Studie der Krankenkasse DAK. Schließlich steht dort der Kühlschrank nur wenige Meter von der Wirkungsstätte entfernt. Und den täglichen Speiseplan bestimmen schnelle Gerichte, die sich noch dazu häufig wiederholen. Wie schön, wenn wieder das geschulte Personal in der Betriebskantine die Speisen vorgibt und sie sogar noch zubereitet! Bleibt nur zu hoffen, dass es zur Currywurst eine gesunde Alternative gibt. Den ständigen Gang zum Kühlschrank werden die kritischen Blicke der Kollegen schon verhindern. Quelle: Getty Images
Beim Sport kommen nicht nur die Körper, sondern auch die Gedanken in Bewegung. Vor der Arbeit eine halbe Stunde aufs Rudergerät, in der Mittagspause mit Kollegen an die Tischtennisplatte oder nach Feierabend noch eine Yogastunde – all das kann nicht nur dabei helfen, dass Mitarbeiter gesund bleiben. Wer gemeinsam schwitzt, versteht sich danach besser und entwickelt meist bessere Ideen als in einem schnöden Meetingraum. Eine wichtige Sache, die Firmen dazu allerdings beachten sollten: Gemeinsame Duschen sind im Fitnessstudio zwar gang und gäbe, nach dem Sport bei der Arbeit will aber niemand mit den Chef unter die gleiche Dusche. Quelle: Getty Images
Wenn Sitzen das neue Rauchen ist, wie es das gleichnamige Buch des US-Wissenschaftlers James Levine vor ein paar Jahren postulierte, dann ist Arbeiten im Homeoffice die Variante ohne Filter, an einer Tankstelle im Chemiepark. Das gilt zumindest für die Art von Heimbüro, wie es sich viele Menschen im Frühling 2020 spontan eingerichtet haben. Ein Stuhl aus der Küche, dazu der alte Campingtisch aus dem Keller. Fertig war die Rückenfolter. Inzwischen haben viele dauerhaft daheim arbeitende Menschen zwar nachgerüstet, an die Rundumversorgung eines modernen Bürogebäudes kommt aber keiner einer heran: Steckdosen an jeder Wand, indirekte Beleuchtungen, auf Tages- und Jahreszeit abgestimmt, Jalousien, die sich bei direkter Sonne von selbst absenken. Und wenn Stifte, Papier oder Post-its leer sind? Da hinten steht ein Schrank, der immer voll ist. Diesen Luxus lernt erst zu schätzen, für wen er unerreichbar geworden ist. Quelle: Getty Images
Für die einen sind sie das größte Übel im Büro, für die anderen der Grund, überhaupt zu kommen: die Kollegen. Deshalb empfiehlt Josephine Hofmann vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, Listen anzulegen, auf denen ersichtlich ist, wer wann im Büro ist. Wer sehe, dass ein bestimmter Kollege oder eine bestimmte Kollegin auch vor Ort sei, sei eher motiviert zu kommen. Quelle: Getty Images
Klimaanlagen sind sexistisch: Vor ein paar Jahren kam eine Studie im Fachblatt Nature zu dem Schluss, dass sie an vielen Orten noch immer auf dem Stand der Sechzigerjahre sind – eingestellt auf die Bedürfnisse eines 40 Jahre alten Mannes. Der fühlt sich bei 22 Grad im Büro wohl, Frauen hingegen eher bei 24 Grad. Doch je wärmer es da draußen wird, desto verlockender wirkt die Aussicht auf Abkühlung. Für Männer wie für Frauen. Vielleicht sollten Unternehmen die Schalthebel an ihren Klimaanlagen einfach in ihre Diversity-Charta aufnehmen? Das dürfte dann auch Feministen aus dem stickigen Homeoffice locken.   Quelle: Getty Images
Eine anständige Kaffeeküche hat etwas Intimes. Sie darf klein und sogar etwas schrammelig sein. Menschen kommen ganz nebenbei ins Gespräch. Quer über Hierarchie- und Abteilungsgrenzen. Vertrauliche Gespräche entstehen. Sorgen und Nöte werden offenbar, und man tauscht en passant wertvolle Tipps aus. Solche vermeintlich weiche Faktoren hinterlassen schon Spuren in den harten Kennzahlen, so das Fazit einer Studie der Unternehmensberatung Staufen. Die offizielle Kommunikation könne in der Pandemie den informellen Austausch nicht ersetzen. Nur in jedem fünften Unternehmen funktioniere die Zusammenarbeit annähernd wie vor der Coronakrise. Die Folge: Effizienz-, Kosten- und Qualitätsprobleme. Quelle: Getty Images
Vielleicht, dieser Verdacht drängt sich rückblickend auf, wurden Betriebskitas gar nicht erfunden, um Mitarbeitern das Leben zu erleichtern – sondern um sie für alle Zeit ans Büro zu fesseln. Fakt ist, dass es kaum einen stärkeren Anreiz zur Rückkehr ins Büro gibt als die Möglichkeit, das eigene Kind neben dem Empfang abgeben zu können. Das ist praktisch, weil es zwei zusätzliche Wege am Tag spart und Angestellten zugleich die Flexibilität gibt, auf Husten, Fieber oder sonstige Notfälle gleich zu reagieren. Vor allem aber, und das ist fast der stärkere Anreiz, ist es fürchterlich unpraktisch, jeden Morgen das Kind in die Betriebskita zu bringen, nur um dann in Spuckweite des eigenen Schreibtischs wieder abzudrehen und ins Homeoffice zurückzukehren. Und diesen Vorgang dann auch noch am Nachmittag zu wiederholen. Quelle: Getty Images

Homeoffice führt zu Entfremdung

Eine aktuelle Umfrage im Auftrag des Personalsoftwareanbieters Personio zeigt, wie entscheidend es in Zeiten des Fachkräftemangels für Unternehmen ist, die Balance zwischen Homeoffice und Büro, zwischen hoher Freiheit und häufiger Begegnung zu meistern. Die meisten Unternehmen werden zwar den während der Pandemie eingespielten Mix aus diversen Arbeitsstätten beibehalten, so das Ergebnis der Befragung von etwa 1200 Personalern sowie 5000 Angestellten kleinerer Unternehmen in sieben europäischen Ländern.

Doch die Gefahr, dabei vor allem jene Talente zu verlieren, die das Homeoffice schätzen, ist groß: Unter den Mitarbeitern, die vollständig von zu Hause aus gearbeitet haben, fassten im Laufe der vergangenen zwölf Monate 53 Prozent den Plan, das Unternehmen zu verlassen. Unter denjenigen, die ab und an ins Büro kamen, waren es nur noch 47 Prozent. Unter denen, die gar nicht von zu Hause aus arbeiteten, 43 Prozent. Das dürfte auch daran liegen, dass es Führungskräften schwerfällt, die enge Bindung über die Distanz zu halten: 27 Prozent der Befragten sagten, ihre Karriere haben unter den pandemiebedingten Arbeitsbedingungen gelitten. Nur 51 Prozent halten die Bewertung ihrer Leistung für fair, nur 39 Prozent bekommen überhaupt ein regelmäßiges Feedback.

Um diese Probleme weiß auch Sabine Bendiek, Arbeitsdirektorin beim Softwarekonzern SAP, einem der deutschen Vorreiter in Sachen Homeoffice: „Mitarbeiter müssen einerseits selbstbestimmt arbeiten können, sich andererseits aber auch sozial eingebunden fühlen – und zwar egal, von wo sie arbeiten“, sagt die Vorständin. Hier seien vor allem die Führungskräfte gefragt, um den Zusammenhalt ihrer Teams zu fördern. „Das gelingt durch regelmäßigen transparenten Austausch, offenes Feedback oder auch gemeinsame virtuelle Aktivitäten“, so Bendiek. Ferner sind in ihren Augen eine funktionierende digitale Infrastruktur und die entsprechende technologische Ausstattung entscheidend, um den Bedürfnissen der Beschäftigten nach Flexibilität und Austausch gleichermaßen gerecht zu werden.



Diese Gemengelage zu sortieren, fällt vielen Unternehmen noch schwer. „Zu sagen, so und so viel Prozent Präsenz im Büro muss sein, um der Entfremdung vorzubeugen, das wäre zu simpel“, sagt Organisationsberater Gundolf. Viel zu viele Faktoren spielten schließlich eine Rolle, um die richtige Balance zwischen Homeoffice und Büro zu finden: Welche Aufgaben stehen an? Welche Kultur prägt das Unternehmen? Und welche Bedürfnisse hat eigentlich der einzelne Mitarbeiter?

Büro nach Corona: Weg von starren Regeln

Das ist einer der Gründe, warum etwa der Chemiekonzern BASF auch nach dem Ende der Homeofficepflicht „kein starres Regelwerk“ einführt. Natürlich gebe es nun neue Rahmenbedingungen, wie etwa die Möglichkeit in Absprache mit der Führungskraft wieder ins Büro zu kommen oder größere Präsenzmeetings abzuhalten. Insgesamt gelte aber, dass Mitarbeiter und Führungskraft je nach Tätigkeit individuell klären, ob und wie mobiles Arbeiten künftig möglich ist. Diese Freiheit gewähren auch andere große Unternehmen, wie etwa Bayer oder der Versandhändler Otto, ihren Teams. 

Was funktioniert? Und zu welchen Terminen ist Präsenz unabdingbar? Absprachen zu solchen Fragen dürfen nicht unumkehrbar sein. Berater Axel Gundolf rät Führungskräften deshalb zu improvisieren. „Wer improvisiert, der macht das Naheliegende“, sagt er. Bezogen auf die neue Art der Zusammenarbeit bedeutet dies: es so machen, wie es sich gut anfühlt – immer in dem Wissen, Dinge auch jederzeit ändern zu können. „Es braucht keinen Fünf-Jahres-Plan, sondern eine Vorstellung davon, wo man hin will – und die Bereitschaft, dann Schritt für Schritt nachjustieren.“ Das zeige etwa der Blick zurück: Unternehmen, die im vergangenen Juni feste Tage für die Anwesenheit im Büro definierten, mussten das schon im Herbst zurückdrehen, als die Infektionszahlen wieder in die Höhe schossen.

Flexibilität schlägt Obstkorb

Auch im Moment verunsichert die Infektionslage noch viele Mitarbeiter und wird vorübergehend sicherlich dazu führen, dass die Büros auch weiterhin eher mäßig belegt sein werden, schätzt etwa die Otto Gruppe. Wer seinen Mitarbeitern ehrlich vermittelt, mit ihnen gemeinsam nach der besten Lösung zu suchen, kann das Zugehörigkeitsgefühl trotz verstärktem Homeoffice aufrechterhalten, davon ist Berater Gundolf überzeugt. „Es gibt kein erprobtes Richtig oder Falsch.“ Und das sollten Führungskräfte auch einräumen. Damit würden sie selbst einen enormen Druck von sich nehmen. „Wenn ich als Führungskraft integer und mit guten Intentionen agiere, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dies die Bindung meiner Mitarbeiter stärkt.“

Vorgesetzte sollten nun signalisieren: Das wird schon. Ich höre zu – und bin bereit, Dinge anzupassen. „Vertrauen ist ja nichts, was ich einmal an die Wand schreibe – und dann gilt das ab Montag.“ Eine Mutter, die weiß, sie kann auch am Nachmittag mal zum Kinderturnen und sich dafür am Abend noch mal an den Schreibtisch setzen, schätze diese Flexibilität sicherlich mehr als den Obstkorb im Büro bei gleichzeitiger Präsenzpflicht.

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Und so bleibt auch Edding mit seinen Mitarbeitern weltweit im Gespräch, um die bestehenden Vereinbarungen anzupassen. „Wir haben unser Konzept auf Best-Practice-Fällen aufgebaut“, sagt Personalchef Freyer. Zur Fortentwicklung ziehe das Unternehmen das regelmäßige Feedback aller Mitarbeiter weltweit ein. Dieser Überblick versetze Edding in die Lage, das Konzept auf länder- und kulturspezifische Besonderheiten anzupassen. Und natürlich auf die weitere Entwicklung der Infektionszahlen.

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