Seitdem klar ist, dass der 77-jährige Demokrat Joe Biden Donald Trump bei der Wahl ums Präsidentenamt herausfordern wird, geht es häufig vor allem um eines: sein Alter. Biden könnte der älteste Präsident werden, den die USA jemals hatten. US-Medien widmen sich seinem Gesundheitszustand fast ausführlicher als seiner politischen Agenda. Und sein Kontrahent Donald Trump verunglimpft ihn gerne als „sleepy Joe“ - der greis und senil wirke. Dabei ist auch Trump mit seinen 74 Jahren keineswegs ein Jungspund. Doch wirkt sich das Alter der Kandidaten tatsächlich auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns aus? Und ist es somit ein Nachteil für Staats- und Unternehmenslenker?
Fakt ist: Im Mittel ist das menschliche Gehirn zwischen 25 und 30 Jahren am leistungsfähigsten. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn erstens hängt die tatsächliche Leistung von vielen individuellen Gegebenheiten ab - von den Genen über den Gesundheitszustand bis hin zur Lebensweise. Und zweitens kann ein junges Gehirn bestimmte Aufgaben zwar besser lösen als ein altes - aber ebenso auch anders herum. Dazu gibt es zahlreiche Studien.
Schnelligkeit vs. Erfahrung
Der renommierte US-Psychologe Dean Simonton etwa hat bereits in seinem 1994 erschienenen Buch „Greatness - Who makes history and why?“ untersucht, zu welchem Zeitpunkt in ihrem Leben herausragende Wissenschaftler am produktivsten waren. Und siehe da, während die Naturwissenschaftler mit 40 Jahren die meisten ihrer Abhandlungen verfassten, konnten sich die Geisteswissenschaftler ein hohes Niveau bis in ihre Siebziger hinein erhalten. Aljoscha Neubauer, Psychologieprofessor an der Universität Graz, erklärt diese Erkenntnis folgendermaßen: „Ab etwa 40 Jahren nimmt die Beweglichkeit im Kopf spürbar ab. Naturwissenschaftler, die bis dahin nichts Bahnbrechendes veröffentlicht haben, werden das auch nicht mehr tun.“ Denn diese Beweglichkeit sei wichtig, weil etwa Physiker ein sehr gutes räumliches Vorstellungsvermögen brauchten und sie logische Zusammenhänge miteinander verknüpfen können müssten. Bei den Geisteswissenschaftlern sei Erfahrung ein wesentlicher Bestandteil des Erfolgs. „Das erklärt, warum sie in ihren Sechzigern an produktivsten sind.“
Eine neurologische Studie des Massachusetts Institute of Technologie (MIT) belegt ebenfalls unterschiedliche Höhepunkte geistiger Leistungsfähigkeit im Laufe des Lebens. Die Untersuchung von knapp 50.000 Personen zeigt, dass die reine Schnelligkeit, mit der Informationen verarbeitet werden, schon vor dem 20. Lebensjahr am höchsten ist. Während diese Schnelligkeit dann rapide abnimmt, wird das Kurzzeitgedächtnis noch etwa bis zum 25. Geburtstag verbessert. Jenseits von Aufgaben rund ums Erfassen, Verarbeiten und Merken hat das menschliche Gehirn aber auch später noch Hochphasen. So erkannten die Forscher des MIT etwa, dass die Fähigkeit, die Gefühlswelt anderer wahrzunehmen, bei 40- bis 50-Jährigen deutlich besser ist als bei jungen Menschen.
Alte Menschen lernen anders
„Auch das Alter hat seine Vorteile“, resümiert Neurobiologe Ben Godde von der Jacobs University Bremen. Zwar würden die „biologischen Voraussetzungen“ mit steigendem Alter abnehmen, weil etwa die Durchblutung zurückginge und Nervenzellen den Kontakt zueinander verlieren würden. „Auf der anderen Seite steigt das Erfahrungswissen“, sagt der Wissenschaftler. Damit lasse sich die nachlassende Schnelligkeit in vielen Bereichen kompensieren. Beispiel Lernen: „Während junge Menschen neue Informationen sehr schnell ungefiltert aufnehmen können, kann jemand mit viel Erfahrung von vornherein Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und lernt nur das wirklich Essentielle.“ Ähnliches gelte beim Treffen von Entscheidungen. Zwar könnten junge Menschen mehr Informationen in kurzer Zeit verarbeiten und damit auch eine schnelle Entscheidung treffen. „Wenn man Erfahrungen aus der Vergangenheit in eine Entscheidung einbezieht, gibt das auf der anderen Seite Sicherheit.“
So bringen Sie Ihr Gehirn auf Trab
Tragen Sie Ihre Uhr rechts statt links oder machen Sie Tätigkeiten, die Sie sonst nur mit Ihrer bevorzugten Hand ausführen, einfach mal mit der anderen.
Lernen Sie einen neuen Tanz, eine neue Sprache, neue Kochrezepte, lernen Sie ein Gedicht auswendig oder fangen eine neue Sportart an – was, ist eigentlich egal. Hauptsache, das Gehirn bekommt Futter.
Gehen Sie ohne Einkaufszettel in den Supermarkt und überschlagen Sie beim Warten an der Kasse den Gesamtwert der Waren im Kopf. Oder: Versuchen Sie beim Musikhören die verschiedenen Instrumente zu erkennen.
Memory kennt jeder aus seiner Kindheit. Das Merkspiel steigert die Konzentration und das bildhafte Gedächtnis bei Jung und Alt. Sie haben kein Memory-Spiel mehr zu Hause? Dann spielen Sie es online. Auch Schach ist gut für Gehirn.
Kreuzworträtsel sind zwar eine gute Gedächtnisübung, aber nur, wenn sie sehr schwer sind – und nicht jede Antwort gegoogelt wird. Nur selbst raten aktiviert die grauen Zellen.
Es gibt zwar kein Brainfood, das aus einer mentalen Trantüte einen zweiten Einstein macht, aber es gibt durchaus Lebensmittel, die Gehirn und Nerven besser mit den nötigen Nährstoffen versorgen, als Schokolade und Chips. Dazu gehören unter anderem Nüsse, frischer Fisch und Früchte.
Gönnen Sie sich Pausen, in denen sich auch das Gehirn erholen kann. Das funktioniert schon durch bewusstes Atmen und hilft in stressigen Situationen gleichzeitig, einen klaren Kopf zu bewahren.
Die Mischung macht's
Und so sieht Neurobiologe Godde auch im Alter der US-Präsidentschaftskandidaten keineswegs per se ein Nachteil. „Biden etwa bringt sehr viel politische Erfahrung mit. Dieses Erfahrungswissen ist sogar ein entscheidender Vorteil.“ Sowohl bei Politikern als auch bei altgedienten Unternehmenslenkern stellt Neurobiologe Godde oftmals bis ins hohe Alter eine „herausragende geistige Fitness“ fest. „Wer nicht aufhört zu arbeiten und somit die Anforderungen an sein Gehirn nicht absenkt, erhält sich automatisch eine gewisse Plastizität des Gehirns. Das kann man trainieren.“ Etwa indem man ständig was Neues lernt oder soziale Kontakte knüpft, die einen mit neuen Erfahrungen konfrontieren.
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Auch wenn Menschen durch diese einfachen Tricks ihr Gehirn auf einem gewissen Niveau leistungsfähig halten können, so plädiert Experte Godde trotzdem für altersgemischte Teams. „Sie bringen nachweislich bessere Ergebnisse“, sagt der Neurobiologe. „Die schnelle Aufnahmefähigkeit und kreativen Ideen der Jungen gepaart mit dem Erfahrungswissen der Älteren, können zum Erfolg führen."
Vorausgesetzt, das alte Alphamännchen lässt die Gedanken und Impulse der Jungen auch zu. Und hält sich selbst nicht für unfehlbar.
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