Vereinbarkeit von Familie und Beruf „Bismarck hat sich für Work-Life-Balance nicht interessiert“

Work-Life-Balance hat sich in den vergangenen Jahren zum großen Trend in der Arbeitswelt entwickelt. Quelle: imago images

Schon im 19. Jahrhundert hegten Arbeiter den Wunsch, dass sich Beruf und Privatleben möglichst gut vertragen, sagt der Gesundheitswissenschaftler Bernhard Badura. Heute hingegen sei diese Work-Life-Balance in vielen Berufen bedroht.

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Bei der Wahl des Arbeitgebers legen Beschäftigte immer mehr Wert auf eine gute Work-Life-Balance: Viele Unternehmen haben längst reagiert und bieten ihrer Belegschaft Homeoffice und Vier-Tage-Woche, Sabbatical und Workation an. Bernhard Badura beschäftigte sich in den Neunziger- und Zweitausenderjahren als einer der ersten deutschen Wissenschaftler intensiv mit der Work-Life-Balance. Er gründete an der Universität Bielefeld die Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Und selbst nach seiner Emeritierung berät der 79-Jährige als Geschäftsführer des Unternehmens Salubris noch immer zu betrieblichem Gesundheitsmanagement, entwickelt Mitarbeiterbefragungen und forscht zu dem Thema. Im Interview im August 2022 erklärte er, welchen gesellschaftlichen Wandel die Zunahme von berufstätigen Frauen auslöste, kritisiert den Druck der Chefs im Homeoffice – und beschreibt das fatale Erbe der von Bismarck eingeführten Unfallversicherung.

WirtschaftsWoche: Herr Badura, Sie haben vor gut 20 Jahren über die Work-Life-Balance als Wettbewerbsfaktor für Unternehmen geschrieben. In der deutschsprachigen Forschung waren Sie damit zu dieser Zeit noch recht allein. Wann kam die Work-Life-Balance nach Deutschland?
Bernhard Badura: Da müssen wir noch viel weiter zurückgehen. Das Thema der Work-Life-Balance hat seinen Ursprung schon zu Beginn der industriellen Revolution. Vorher lebten die Menschen von der Landwirtschaft und wohnten dort, wo sie arbeiteten: neben ihren Feldern. Als die Menschen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts in Scharen auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Städte zogen, entwickelte sich ein viel schärferer Konflikt zwischen Beruf und Familie. Sie mussten ihre Zeit und Energie entweder für die Familie oder den Arbeitgeber einsetzen – beides gleichzeitig war nicht mehr möglich. Und vor allem die Arbeit zerrte besonders stark an den Menschen, Männer schufteten den gesamten Tag unter besonders harten Bedingungen.

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Und doch ist die Work-Life-Balance erst seit wenigen Jahren ein so großer Trend in der Arbeitswelt. Wieso?
Beschäftigte hatten bis zum Ende des zweiten Weltkriegs kaum Mitbestimmungsrechte in Unternehmen. In der Wirtschaft wurde das Thema vor allem in den vergangenen 30 Jahren immer größer. Beschäftigte und Gewerkschaften drängten hierzulande auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ausgelöst wurde das vor allem durch die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen. Als die Männer die Arbeitswelt noch fast allein bevölkerten, legte kein Unternehmer Wert auf eine Work-Life-Balance. Schließlich haben sich die Männer nur wenig um die Kinderbetreuung oder die Pflichten im Haushalt gekümmert. Als dann aber in den Neunzigerjahren deutlich mehr Frauen arbeiteten und sie merkten, dass ein Vollzeitjob kaum mit der Familie zu vereinbaren ist, wurden die Forderungen immer lauter. Heute ist das Thema natürlich nicht mehr nur noch Müttern wichtig. Arbeit ist inzwischen ganz überwiegend Kopfarbeit, verlangt viel Wissen, und sie fordert die Psyche. Deshalb streben Beschäftigte auch heute noch nach einem gesunden Verhältnis von Arbeit und Privatem.

Bernhard Badura gründete an der Universität Bielefeld die Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Quelle: Privat

Anders als in Neunzigerjahren, in denen in Deutschland Massenarbeitslosigkeit herrschte, fehlt es heute allerorten an Fachkräften. Was bedeutet das für die Work-Life-Balance der Arbeitnehmer?
Die Arbeitnehmer haben heute eine viel größere Verhandlungsmacht. Wer über gute Qualifikationen verfügt, kann die Work-Life-Balance in den Bewerbungsprozess einbringen. Viele Unternehmen werben damit auch um neue Mitarbeiter.

Sie schrieben 2003, dass mentale Gesundheit Privatsache sei. Hat sich das geändert?
Nicht wirklich. Noch heute decken Unfallversicherungen vor allem physische Risiken ab. Hier lebt die Sorge der frühen Industrieepoche fort: Wenn ich meine Arbeit aufgrund von Krankheit oder Unfällen verliere, konnte ich meine Familie nicht ernähren. Genau das sollte ja die Unfallversicherung abdecken, die Otto von Bismarck 1884 einführte. Für die Work-Life-Balance hat sich Bismarck natürlich nicht interessiert. Aber während heute die Zahl der körperlichen Arbeitsunfälle seit Jahren abnimmt, steigt die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Krankheiten.

Welche Krankheiten meinen Sie?
Laut den Arbeitsunfähigkeitsstatistiken der gesetzlichen Krankenkassen sind Angststörungen, Burnout und Depressionen die dominantesten psychischen Krankheiten. Diese Störungen stellen sich schleichend ein und lassen sich kaum selbst diagnostizieren. Es gibt allerdings Anzeichen dafür: Betroffene von Burnout und Angststörungen müssen immer mehr Energie für eine Tätigkeit aufwenden. Sie werden reizbarer, vergesslicher und haben weniger Empathie für andere Menschen. Außerdem entwickeln sie beim Gedanken an den Beruf oder den Chef Angst oder Panik. Es kann nur im Interesse der Firmen sein, den Krankheiten auch mit einer ausgeglichenen Work-Life-Balance vorzubeugen. Denn darunter leidet natürlich auch die Leistungsfähigkeit.

Ähnlich wie vor der industriellen Revolution arbeiten auch heute viele Arbeitnehmer wieder dort, wo sie leben: im Homeoffice. Hier vermischen sich Privates und Berufliches. Vielen Beschäftigten fällt die Vereinbarkeit leichter.
Das stimmt. Doch ich sehe auch die Gefahr, dass es im Homeoffice zu einer extremen Überdehnung der Arbeitsanforderungen kommen kann. Beschäftigte sind ständig erreichbar, arbeiten zum Teil deutlich länger als im Büro. Sie fühlen sich einsam, die Beziehungen zu den Kollegen reißen ab. Außerdem ist der Präsentismus ein großes Problem: Wer krank ist, schleppt sich häufig trotzdem an den Schreibtisch. Immerhin steht der ja nur wenige Meter vom Bett entfernt. Und viele Vorgesetzte stellen noch mal größere Anforderungen an die Mitarbeiter im Homeoffice, da sie fürchten, dass die Beschäftigten sich daheim um die Arbeit drücken.

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Inzwischen bieten Unternehmen ihren Mitarbeitern Workation an – also die Möglichkeit, am Urlaubsziel zu arbeiten. Ein Viertel der Arbeitnehmer arbeitet auch im Urlaub, zeigte kürzlich eine Umfrage. Es kommt also unweigerlich zu Überschneidungen zwischen Arbeit und Privatleben. Ist ein Konzept wie Work-Life-Balance in einer modernen Arbeitswelt nicht realitätsfern?
Bei Kopfarbeitern ist die strikte Trennung zwischen Arbeit und Privatem kaum mehr realistisch. Denken Sie etwa an Schriftsteller, Architekten, Programmierer oder an Journalisten wie Sie. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie nicht auch in Ihrer Freizeit über neue Themen grübeln. Die Annahme, dass es eine völlige Trennung zwischen Job und Privatleben gibt, ist heute illusorisch. Und dennoch müssen Arbeitgeber wie Arbeitnehmer darauf achten, dass das Privatleben nicht unter dem großen Einfluss der Arbeit leidet. Sonst drohen die psychischen Krankheiten, über die wir gerade sprachen.

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Transparenzhinweis: Dieser Artikel erschien erstmals im August 2022. Wir zeigen ihn aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.

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