Aktuell tagt der VW-Aufsichtsrat zum "Dieselgate" und vermutlich auch über die Zukunft von VW-Chef Martin Winterkorn. In Übersee und hierzulande formieren sich derweil die Kläger, auch die Politik in Europa, USA und natürlich Berlin widmet sich zunehmend der VW-Affäre. Der Skandal ist noch längst nicht aufgeklärt, seine Tragweite für VW, die Automobilindustrie und die deutsche Wirtschaft kaum abschätzbar - und doch legten VW-Aktien am Mittwochmittag nach zwei herben Verlusttagen schon wieder zu. Nach anfänglichen Kursverlusten um weitere zehn Prozent und Kursen von weniger als 100 Euro kletterte der Kurs der Stamm- und Vorzugsaktien ins Plus. Am Mittag lagen beide Papiere rund drei Prozent im Plus.
Zuvor war der erfolgsverwöhnte Wolfsburger Autokonzern VW an der Börse nach einer Gewinnwarnung am Dienstag vollends in Ungnade gefallen. Und für den Moment geschah dies auch vollkommen zu Recht.
Volkswagen hat wegen der Affäre um manipulierte Abgaswerte in den USA seine Gewinnziele gekappt. Der Kurssturz am Montag um rund 20 Prozent bei den VW-Stamm- und Vorzugsaktien setzte sich am Dienstag an der Börse fort. Bis zum Nachmittag verloren die Stammaktien 17,5 Prozent, die Vorzugsaktien lagen mit einem Minus von 19,4 Prozent noch tiefer im roten Bereich. Zeitweise betrug das Minus erneut mehr als 20 Prozent.
Damit hat sich die Börsenbewertung von Volkswagen um weitere zwölf Milliarden auf nunmehr 51,3 Milliarden Euro verringert. Am Montag hatte VW bereits einen Bewertungsabschlag um 15 Milliarden hinnehmen müssen. Zum Vergleich: Beim Höchststand der Aktien im März hatten Anleger die Wolfsburger noch mit insgesamt 122,5 Milliarden Euro bewertet. Seitdem ist die Marktkapitalisierung also um fast sechzig Prozent gefallen.
Solch drastischen Kursstürze haben ohne Zweifel Seltenheitswert, einmalig sind sie jedoch nicht. Aktionäre der Energieversorger E.On und RWE sind derzeit ähnlich stark gebeutelt, und das nicht zum ersten mal. Auch nach Fukushima und dem plötzlichen Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland ging es steil bergab. Davon konnten sich beiden Aktien der Energiekonzerne nur vorübergehend erholen.
Stimmen zum Abgas-Skandal bei VW
Osterloh fordert im Skandal um manipulierte Abgastests in den USA ein entschiedenes Durchgreifen auch innerhalb des Konzerns. „Das muss jetzt mit aller Konsequenz und Offenheit aufgeklärt werden; und wir müssen Konsequenzen daraus ziehen“, sagte er dem Magazin „Stern“. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Osterloh, der als einer der mächtigsten Männer bei Volkswagen auch Mitglied des Aufsichtsrats ist, äußerte sich geschockt über die Vorwürfe und forderte: „Wir müssen verloren gegangenes Vertrauen bei unseren Kunden zurückgewinnen.“ Vor allem Konzernchef Martin Winterkorn stehe dabei nun in der Pflicht.
„Eine Manipulation von Emissionstests ist völlig inakzeptabel und durch nichts zu rechtfertigen“, sagte der SPD-Politiker, der als amtierender Regierungschef in Niedersachsen Mitglied im Präsidium des Aufsichtsrates von VW ist. „Es muss selbstverständlicher Anspruch des VW-Konzerns sein, die gesetzlichen Vorschriften einzuhalten.“ Er habe die Nachricht "mit Besorgnis zur Kenntnis genommen. Die gegen VW in den USA erhobenen Vorwürfe wiegen schwer“, sagte Weil. Er gehe davon aus, dass diese Vorfälle „schnell und gründlich aufgeklärt werden. Erst danach kann über mögliche Folgen entschieden werden."
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine rasche und volle Aufklärung der Abgas-Manipulationen des Volkswagen-Konzerns gefordert. Merkel sprach sich „angesichts der schwierigen Lage“ für „volle Transparenz“ aus und forderte: „Ich hoffe, dass möglichst schnell die Fakten auch auf den Tisch kommen.“
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat die Abgas-Manipulationen scharf kritisiert. Der Vizekanzler geht aber von keinem nachhaltigen Schaden für die deutsche Industrie insgesamt aus. „Dass das ein schlimmer Vorfall ist, ist glaube ich klar“.Natürlich gebe es Sorge, dass der exzellente Ruf der deutschen Automobilindustrie und vor allem von Volkswagen darunter leidet: „Ich bin aber sicher, dass das Unternehmen schnell und restlos den Fall aufklären und die denkbar eingetreten Schäden wieder gut machen wird.“ Der Fall sei aber nicht typisch. „Der Begriff „Made in Germany“ ist weltweit ein Qualitätsbegriff.“ Deshalb müsse schnell aufgeklärt werden: „Aber ich glaube nicht, dass das ein dauerhafter und prinzipieller Schaden für die deutsche Industrie ist.“ Gabriel sprach sich dafür aus, Messfehler oder Manipulationen vielleicht einmal insgesamt zu überprüfen.
Die Bundesregierung fordert von den Autoherstellern „belastbare Informationen“, um mögliche Manipulationen bei Abgastests auch in Deutschland prüfen zu können. Diese Überprüfung müsse durch das Kraftfahrtbundesamt vorgenommen werden, sagte ein Sprecher des Umweltministeriums. Er forderte zudem die Hersteller auf, eng mit den US-Behörden zusammenzuarbeiten, um eine „lückenlose Aufklärung“ zu ermöglichen. Der Sprecher sagte, seinem Haus lägen „keine weiteren Kenntnisse über mögliche Schummeleien deutscher Automobilproduzenten vor“.
CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt hat Volkswagen aufgefordert, Kunden "vollumfänglich aufzuklären", um dadurch Vertrauen zurückzugewinnen. Er betonte, die Regierung wolle selbst aktiv dafür sorgen, dass derartige Manipulationen in Zukunft nicht wieder vorkämen.
Volkswagen-Chef Martin Winterkorn kann nach Meinung von Autofachmann Ferdinand Dudenhöffer angesichts des Abgas-Skandals in den USA nicht im Amt bleiben. Winterkorn, in dessen Verantwortung auch die konzernweite Forschung und Entwicklung falle, habe entweder von den Manipulationen gewusst oder aber er sei ahnungslos und habe seinen Geschäftsbereich nicht im Griff, sagte der Direktor des CAR-Instituts der Universität Duisburg-Essen der „Frankfurter Rundschau“. „In beiden Fällen würde ich sagen, dass Winterkorn an der Konzernspitze nicht mehr tragbar ist.“ Der „Westdeutschen Allgemeinen“ sagte er: „Jeder Politiker könnte bei einer solchen Angelegenheit nicht in seinem Amt bleiben.“
In Europa werden die Auto-Abgaswerte nach Angaben des TÜV Süd bereits während der Produktion streng überwacht. „Da gibt es klare Regeln“, sagte ein Sprecher. Für alle Fahrzeuge, die in der EU zugelassen werden sollen, müssten die Hersteller externe Kontrollen sicherstellen. „Die Fahrzeuge werden nach dem Zufallsprinzip vom Band genommen und kontrolliert“, sagte er. Allein der TÜV Süd nehme pro Jahr mehr als tausend dieser Kontrollen vor.
BMW ist nach eigenen Angaben von dem Skandal nicht betroffen. Bei Überprüfungen eines Dieselfahrzeugs habe es keine auffälligen Abweichungen der Werte gegeben, erklärte das Unternehmen. Bei BMW habe sich die EPA nicht gemeldet, hieß es in München. Wie sich der Skandal auf den Absatz von Diesel-Fahrzeugen in den USA auswirken werde, lässt sich nach Einschätzung von BMW noch nicht beurteilen. Für BMW machen diese Fahrzeuge bislang erst einen kleinen Anteil aus: In den letzten Jahren habe der Absatz von Dieselwagen in den USA drei bis sechs Prozent des gesamten Absatzes ausgemacht - höchstens rund 20.000 Fahrzeuge jährlich.
Daimler ist nach eigenen Angaben nicht von den Ermittlungen der US-Umweltschutzbehörde EPA wegen Abgas-Manipulationen betroffen. "Es gibt nach unseren Erkenntnissen keine Untersuchungen zu Mercedes-Benz", teilte der Stuttgarter Konzern am Montag mit.
Nach Meinung von Experten des DIW wird der VW-Abgasskandal im schlimmsten Fall auch die deutsche Konjunktur belasten. "Die Autoindustrie ist technologisch eine der Schlüsselbranchen, es ist die Leitindustrie schlechthin in Deutschland", sagt Industrieexperte Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. "Wenn es zu Absatzeinbußen kommt, könnte es auch Zulieferer treffen und damit die gesamte Wirtschaft."
Ulrich Grillo, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, hat von VW eine schnelle Aufklärung des Abgasskandals gefordert. "Wir kritisieren jegliche Manipulation scharf", sagte er. "Jedes Unternehmen muss sich an die geltenden Regeln halten." Er begrüße aber, dass VW die Vorwürfe von unabhängigen Fachleuten prüfen lassen wolle. "Jedes Fehlverhalten muss lückenlos aufgeklärt werden. Jetzt helfen nur Transparenz, Offenheit und Tempo."
Dass es bei VW-Aktien gleich jeweils Verluste von 20 Prozent an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gab, hat auch mit den derzeit besonders wackeligen Börsen zu tun. Schon seit April ist der Dax auf Talfahrt. Mit dem fortgesetzten Warten auf die Zinserhöhung der US-Notenbank, die Unsicherheit über Chinas Konjunktur und die andauernde Schuldenkrise in Europa werden Anleger zunehmend nervös. In dieser Situation möchte keiner, dessen Depot jetzt noch im Plus ist, der letzte sein, der seine Aktien verkauft, wenn es an der Börse kracht.
Aber offenbar sind erste Anleger bereits davon überzeugt, dass bei einem Kurs um die 100 Euro bereits eine Talsohle erreicht und ein idealer Einstiegszeitpunkt erreicht ist. Es mag sein, dass die VW-Aktie gemessen am Eigenkapital des Konzerns, Dividende oder Buchwert pro Aktie jetzt unterbewertet erscheint. Der Buchwert je Aktie zum Beispiel wird aktuell noch auf 180 Euro geschätzt.
Aber für Optimismus ist es noch zu früh. Denn auf VW kommen zweifelsohne Lasten zu, die sich noch nicht in der Bilanz niedergeschlagen haben. Sämtliche Geschäftszahlen sind daher bis auf weiteres Makulatur.
Sippenhaft für Autobauer
Und Schlagzeilen, die nervös machen können, gibt es derzeit genug. Die Abgasaffäre zieht weite Kreise. Die Volkswagen-Führung räumte ein, dass nicht nur die halbe Million in den USA verkauften Dieselfahrzeuge "auffällig" seien, sondern insgesamt elf Millionen Autos die betreffende Steuerungssoftware verwenden, mittels derer VW in den USA die Abgaswerte manipuliert hatte. Das hätten interne Prüfungen ergeben. Für Service-Maßnahmen und weitere Schritte, um verlorenes Vertrauen in die VW-Technik zurückzugewinnen, legt der Konzern daher laut Mitteilung im dritten Quartal rund 6,5 Milliarden Euro zur Seite. Aber das dürfte nur der Anfang sein.
Auch an der Börse hat der Skandal weitreichendere Bedeutung. Zum einen war nicht nur die VW-Aktie auf rasanter Talfahrt, sie riss vielmehr den gesamten Dax-Index in die Tiefe. Die VW-Vorzugsaktie hat im wichtigsten deutschen Börsenindex ein Gewicht von 3,2 Prozent. Das ist nicht wenig, aber auch nicht übermäßig viel. Der Chemieriese Bayer etwa kommt auf ein Indexgewicht von mehr als zehn Prozent.
Wenn selbst Milliarden-Rücklagen nicht reichen könnten
Die Autobauer Daimler und BMW sind jedoch ebenfalls Indexmitglieder, jeweils mit einem Gewicht von 3,4 und bei Daimler sogar neun Prozent. Ihr Aktienkurs kommt mit dem von VW unter die Räder. BMW verliert nur an diesem Dienstag mehr als fünf, Daimler sogar mehr als sechs Prozent. Alle drei Aktien zusammen sind eine enorme Belastung für einen ohnehin schon wackeligen Dax, der zum Herbstbeginn mal wieder am Scheideweg steht. Mit dem Absturz der VW-Aktie sind die Chancen auf ein Herbstrally zwar nicht verloren, aber sicher gesunken.
Anleger, die den Kurssturz für einen günstigen Einstieg nutzen wollen, seien gewarnt. Noch ist nicht absehbar, welche Kreise die Abgasaffäre noch zieht und welche Kosten auf Volkswagen noch zukommen. Viele Aktienanalysten haben daher bereits ihre Kaufempfehlungen revidiert oder zumindest ihre Kursziele deutlich gesenkt.
Sogar andere Autohersteller geraten bereits unter den Generalverdacht der Manipulation von Abgaswerten, auch wenn es dafür zur Zeit keinen Beleg gibt und Konkurrenten wie Daimler oder BMW sich vehement gegen Unterstellungen zur Wehr setzen. Ganz ausschließen wollen das einige Experten der Autobranche aber nicht.
6,5 Milliarden Euro reichen nicht
Anleger sollten sich daher vorsichtshalber darauf einstellen, dass noch weitere Hiobsbotschaften von Volkswagen und anderen Autoherstellern folgen. Zudem ist zu befürchten, dass die VW-Rücklagen von 6,5 Milliarden nicht ausreichen, um den angerichteten Schaden zu begleichen. Zum einen könnte die US-Umweltschutzbehörde EPA maximal 18 Milliarden Dollar, umgerechnet mehr als 16 Milliarden Euro, als Bußgeld verhängen. Zum anderen dürfte der Absatz von Autos nach dem verheerenden Imageschaden leiden.
Außerdem drohen Volkswagen auch noch Sammelklagen von US-Autokäufern, Aktionären und vor Strafgerichten. In Deutschland bereiten Anleger Klagen vor, in den USA hat das Justizministerium Medienberichten zufolge strafrechtliche Ermittlungen gegen VW eingeleitet. Bei Verurteilungen kommen weitere Milliardenausgaben auf VW zu. Hinzu kommen Kosten für die Rücknahme unverkäuflicher Fahrzeuge in den USA. VW hatten den Verkauf seiner Dieselautos in den USA umgehend gestoppt.
Zudem, so das Analysehaus Kepler Cheuvreux, dürfte es Jahre dauern, bis VW den Imageschaden ausbügeln kann und das Verbrauchervertrauen zurückgewinnt. Bis alle Fakten bekannt, die Kosten abschätzbar und die unvermeidlichen Umsatzeinbußen bezifferbar sind und zudem der Aktienkurs seinen Boden gefunden hat, ist die Aktie hochriskant - und auch bei einem Kurs von 100 Euro kein Kauf für den langfristig orientierten Anleger, der nur ein begrenztes Verlustrisiko eingehen möchte. Derzeit ist das Papier zu diesem Preis eher etwas für Zocker.
Wer weiter an die Wolfsburger glaubt, sollte mit dem Kauf der Aktie auf jeden Fall noch warten. Sie mag zwar günstig erscheinen, aber derzeit ist sie wie ein Fallbeil.
Und eine alte Börsenweisheit besagt: Greife nie in ein fallendes Messer.