Arbeiter-Ausbeutung in Katar „Katar hat in kurzer Zeit erhebliche Fortschritte gemacht“

Die WM in Katar sorgt für Verwerfungen, nicht zuletzt wegen der schlechten Situation der Arbeiter. Quelle: imago images

Katar ist berüchtigt dafür, Gastarbeiter wie Sklaven zu halten. Max Tuñón arbeitet für die Internationale Arbeitsorganisation ILO an Reformen. Es hat sich viel zum Guten gewendet, sagt er. Die Fußball-WM bereitet ihm jedoch große Sorgen.

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Das Büro von Max Tuñón befindet sich im sechsten Stock eines Hochhauses im Stadtteil West Bay, dem Geschäfts- und Repräsentierviertel von Katars Hauptstadt Doha. In der Nähe, in anderen Wolkenkratzern, residiert etwa Katars Energiekonzern Qatar Energy. Und eigentlich könnte auch Max Tuñón als Manager in einem der Großkonzerne durchgehen: eng geschnittenes weißes Hemd mit Stehkragen, Anzughose. Dabei führt der 43-Jährige studierte Betriebswirt, der die Staatsbürgerschaften von Panama und Großbritannien besitzt, das Büro der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Die ILO ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, in der 187 Mitgliedsstaaten und die jeweiligen Sozialpartner der Länder zusammen internationale Arbeits- und Sozialstandards verabschieden.

Katar steht im Fokus, seit klar ist, dass das Land die Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Jahr ausrichtet. Beim Bau der acht WM-Stadien sollen nach einem Bericht des „Guardian“ 6500 Gastarbeiter ums Leben gekommen sein. Max Tuñón findet die Zahlen irreführend. Deshalb, weil diese Zahl die Zahl der Todesfälle aller Südasiaten in Katar in den vergangenen zehn Jahren darstellt. Bei den 6500 Toten handelte es sich um Berufstätige aller Branchen, um Studenten, Touristen. Die tatsächliche Zahl der WM-Arbeiter-Toten zu ermitteln, sei schlichtweg nicht möglich. Die Zahl der Arbeiter in Katar, die im Jahr 2020 über alle Branchen hinweg bei Arbeitsunfällen ums Leben kamen, habe bei 50 gelegen.

Tuñón will im Interview mit ein paar Vorurteilen gegenüber Katar aufräumen.

Max Tuñón arbeitet für die Arbeiter-Organisation ILO an Reformen in Katar Quelle: PR

WirtschaftsWoche: Herr Tuñón, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat ihr eigenes Büro in Doha. Wie ist es dazu gekommen?
Max Tuñón: Im Jahr 2014 reichten die internationalen Gewerkschaften bei der Internationalen Arbeitsorganisation eine Beschwerde ein, in der sie Katar beschuldigten, die ILO-Übereinkommen über Zwangsarbeit und Arbeitsaufsicht nicht einzuhalten. Im Mittelpunkt dieser Beschwerde stand der Vorwurf, dass das Kafala-System zur Ausbeutung von Wanderarbeitnehmern führe und dass die Inspektions- und Beschwerdesysteme des Landes die Anliegen von Wanderarbeitnehmern nicht angemessen aufdecken oder lösen würden. Das Kafala-System bindet die Einreise, den Aufenthalt und die Ausreise eines jeden ausländischen Arbeitnehmers in Katar an einen Sponsor. Die Beschwerde der Gewerkschaften löste eine Reihe von Schritten im Rahmen des ILO-Überwachungsmechanismus von Arbeits- und Sozialstandards aus, einschließlich eines Beschlusses des ILO-Verwaltungsrats, eine hochrangige dreigliedrige Mission nach Katar zu entsenden. Nach einer Reihe von Verhandlungen einigten sich der Staat Katar und die ILO auf ein Programm zur Umsetzung umfassender Arbeitsreformen, was 2017 zur Einstellung der Beschwerde führte. Fünf Monate später, im April 2018, eröffnete die ILO ein Büro in Doha. Im Mittelpunkt dieser Arbeitsreformagenda stand die Abschaffung der problematischsten Elemente des Kafala-Systems. Dazu gehörten die Möglichkeit der Arbeitnehmer, das Land ohne die Zustimmung ihrer Arbeitgeber zu verlassen, und vor allem die Möglichkeit der Arbeitnehmer, den Arbeitsplatz ohne die Zustimmung ihrer Arbeitgeber zu wechseln.

Welche Missstände haben Sie festgestellt?
Vor der Abschaffung der problematischsten Elemente des Kafala-Systems waren Wanderarbeitnehmer mit größerer Wahrscheinlichkeit dem Missbrauch durch skrupellose Arbeitgeber ausgesetzt. Vor allem gab es kein angemessenes System, mit dem Wanderarbeitnehmer bei Nichtzahlung des Lohns oder anderen Formen des Missbrauchs vor Gericht gehen konnten.

Mitten in der Energiekrise treibt Berlin das Land in die Abhängigkeit des Emirs von Katar. Doch der neue Gaslieferant ist mehr als umstritten – nicht nur wegen der Sklavenarbeit für die Fußball-WM.
von Volker ter Haseborg, Sonja Álvarez, Max Haerder, Rüdiger Kiani-Kreß, Cornelius Welp

Was hat sich in der Zwischenzeit geändert?
Eine Menge. Mit den jüngsten Arbeitsreformen wurde das bestehende Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern grundlegend beseitigt. Mit der Einführung dieser Kafala-Reformen können die Arbeitnehmer nun ohne die Zustimmung ihres Arbeitgebers den Arbeitsplatz wechseln. Sie können ihre Arbeitsbedingungen jetzt viel besser aushandeln. Dadurch entsteht ein positiver Wettbewerb - die Arbeitgeber müssen Verbesserungen bei der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen in Betracht ziehen, um Arbeitnehmer zu gewinnen und zu halten. Die Regierung hat auch einen Mindestlohn eingeführt.

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Der Mindestlohn beträgt 1000 Rial - das sind umgerechnet etwa 270 Euro. Von einem solchen Monatslohn kann doch niemand leben!
Im ersten Jahr nach Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes im März 2021 wurden die Löhne von über 280.000 Arbeitnehmern, das sind 13 Prozent der Beschäftigten, erhöht. Das Mindestlohngesetz legt nicht nur einen Mindestgrundlohn fest, sondern auch ein Mindestverpflegungs- und Unterkunftszuschuss. Da Unterkunft, Verpflegung und Transport vom Arbeitgeber gestellt werden, geben Arbeitnehmer, die einen Mindestlohn verdienen, nur sehr wenig Geld in Katar aus. Stattdessen überweisen sie rund 80 Prozent ihres Einkommens an ihre Familie in der Heimat. Wichtig ist, dass das Gesetz eine Mindestlohnkommission vorsieht, die die Auswirkungen des Mindestlohns überprüfen und Anpassungen vorschlagen soll. Schließlich erhalten nicht alle Arbeitnehmer in Katar den Mindestlohn. Und diejenigen, die den Mindestgrundlohn verdienen, werden freiwillig Überstunden machen, um ihr Einkommen zu maximieren.

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