Deutsch-türkisches Verhältnis Erdogans Aufbruch nach Eurasien

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Erdogan wendet sich zunehmend von alten Partnern ab

Jetzt treiben ihn und seine Wählerinnen und Wähler andere Sorgen um. Etwa die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, aber auch der Streit über die Verlegung der israelischen US-Botschaft nach Jerusalem. Erdogan hatte sich von Beginn an auf die Seite der Palästinenser gestellt und punktet damit nun beim Volk; und zwar nicht nur bei Konservativen, sondern auch bei säkularen Nationalisten, denen Israel ein Dorn im Auge ist. Seine Berater und Minister kitten unterdessen das angespannte Verhältnis zu Europa.

Aus einem weiteren Grund ist Kritik am Westen und speziell an Deutschland für Erdogan weniger wichtig geworden. Der Präsident wendet sich zunehmend von seinen alten Partnern ab und ist auf der Suche nach neuen Allianzen. Fündig wurde er bislang in der direkten Nachbarschaft. Staatenlenker wie Russlands Präsident Wladimir Putin und der iranische Präsident Hassan Ruhani zerren an ihm, damit er sich endgültig einer eurasischen Allianz zuwendet, die für Europas Rolle in der Region und die Türkei als Mittler des Westens schwere Folgen haben könnte.

Dieser geopolitische Kontinentaldrift ist längst in Gang gesetzt. Für die einst nicht verhandelbare Allianz des Westens mit dem Brückenstaat Türkei ist das eine gefährliche Entwicklung. Denn in Ankara haben zunehmend Politiker und Bürokraten das Sagen, die sich als „Eurasianisten“ bezeichnen. Sie sind in der Regierung vertreten, aber auch in der Opposition aktiv sowie im Staatsapparat, in einflussreichen Thinktanks und großen Medienhäusern. Viele füllen die leer gewordenen Stellen, die durch eine beispiellose Säuberungswelle der türkischen Regierung entstanden.

Seit Jahren arbeiten sie an einem neuen Narrativ, das bis dahin in der politischen Debatte in der Türkei kaum eine Rolle gespielt hatte: Kritik am alten Bündnispartner, die Auslotung neuer Allianzen und die Positionierung der Türkei als neue Regionalmacht, die sich vor EU, USA und Nato nicht zu verstecken brauche.

Türkei erwartet Milliarden von neuer Seidenstraße

An der Spitze der Bewegung: Erdogan selbst. Mit dem erfolgreichen Referendum im April kann er noch stärker als bisher die türkische Außenpolitik bestimmen. Seine ersten vier Auslandsreisen nach dem Referendum lassen seine Marschrichtung erkennen. Es ging nach Indien, Russland, Kuwait und anschließend nach China. Erst danach besuchte Erdogan ein Nato-Mitglied, die USA.

Der türkische Präsident will das Bündnis mit dem Westen opfern für ein neues regionales Machtzentrum an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Dass das möglich ist, kann man schon jetzt beobachten. Die Staatschefs aus Russland, der Türkei und Iran haben im November den Verlauf des syrischen Bürgerkriegs quasi unter sich ausgemacht. Die Vereinigten Staaten, immerhin mit 2000 eigenen Soldaten in Syrien aktiv, mussten zuschauen; ebenso die EU und die restlichen Nato-Partner.

Auch wirtschaftlich wachsen die Verbindungen mit dem Osten. Mit China verbindet die Türkei das Projekt der „neuen Seidenstraße“, über die der Landweg zwischen China und Europa wiederbelebt werden soll. Erst kürzlich eröffnete die Türkei eines der letzten Teilstücke und verspricht sich davon Milliarden. Mit sogenannten „Bruderstaaten“ wie Aserbaidschan, Kirgisistan, Usbekistan und Kasachstan beschloss die Türkei kürzlich die Eröffnung eines Infrastrukturfonds. Die wirtschaftliche Kooperation mit Russland beschert türkischen Firmen schon seit Jahren Milliardenaufträge, während gut situierte Russen die Sonne der türkischen Riviera genießen.

Außerdem schließt Ankara mit Ländern wie Iran ein Wirtschaftsabkommen nach dem anderen. Und während Deutschland keine Waffen mehr in die Türkei exportieren möchte, baut Erdogan eine eigene effektive Rüstungsindustrie auf. Die Panzer, Hubschrauber und Drohnen sind in Ländern wie der Ukraine, Usbekistan und Pakistan gefragt. Deutsche Produktionsketten bleiben bei diesen Deals unangetastet.

Dass der Streit zwischen Ankara und Berlin abflacht, ist dementsprechend auch dem Umstand geschuldet, dass Erdogan dem Westen weniger Platz im tagespolitischen Geschäft einräumt. Das ist gut für alle, die die ewige Spirale der Eskalation in den bilateralen Beziehungen ablehnen. Und schlecht für diejenigen, die darauf bauen, dass die Türkei ein Schlüsselpartner des Westens in der muslimischen Welt bleibt.

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