
Die chinesische Regierung hatte gerade eine Idee: Einheimische Journalisten sollen nicht mehr so viel über eine angebliche Wirtschaftskrise im Land berichten, offenbar soll diese dann von allein verschwinden. Ein Berichterstatter, der verbreitete, eine Finanzfirma habe ihren Kunden zu Aktienverkäufen geraten, bekam eine Geldstrafe von 23.000 Dollar aufgebrummt. Chinesische Regulierungsbehörden entfernten Details über Währungsentwicklungen aus Berichten zur wirtschaftlichen Lage. Und um ganz sicher zu gehen, trat Chinas Präsident persönlich in Redaktionen auf und gab vor: Erste Journalistenpflicht sei, Partei und Land zu nutzen.
China musste dafür viel Kritik einstecken. Aber die Finanzminister und Notenbankchefs der G20-Staaten haben bei ihrem Treffen in Shanghai eine ähnliche Krisen-Vermeidungsstrategie betrieben. Nur musste ihnen niemand diesen Maulkorb verpassen. Sie haben ihn sich selbst aufgesetzt.
Wenige Wochen, nachdem die ganze Finanzwelt und die halbe politische Welt in heller Aufregung war über eine vermeintliche Neuauflage der Weltfinanzkrise von 2008, über (zu) niedrige Ölpreise, über geopolitische Verwirrungen durch Russland, einen möglichen Brexit, den Syrien-Konflikt und die Flüchtlingskrise, über das drohende Abschmieren des Bankensektors und das Stottern des Wachstumsmotors China, einigten sich die wichtigsten Herren (und wenigen) Damen des Geldes auf diesen Tenor: Krise, welche Krise?
Was die G20 sich vornehmen
„Wir bleiben geeint im Kampf gegen den Terrorismus.“ Die G20 spricht den Opfern der Anschläge von Paris und deren Angehörigen ihr Mitgefühl aus. Die Finanzquellen des Terrors sollen ausgetrocknet werden. Die Länder wollen Grenzschutz- und Geheimdienstinformationen austauschen, um die Mobilität von Terroristen zu verhindern.
„Das Ausmaß der anhaltenden Flüchtlingskrise ist von weltweiter Besorgnis mit großen humanitären, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen.“ Die G20 versprechen, Flüchtlinge besser zu schützen und zu unterstützen. Damit die Fluchtgründe entfallen, müssten politische Konflikte gelöst werden. Alle Staaten sollten zur Bewältigung der Krise beitragen.
„Das globale Wirtschaftswachstum ist unausgewogen und bleibt hinter unseren Erwartungen zurück.“ Die G20 halten am Ziel fest, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ihrer Mitglieder bis 2018 um zusätzliche zwei Prozentpunkte zu steigern. Vergleichspunkt sind die Wachstumsprognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) ab 2013. Ein Drittel des Wegs sei bereits geschafft.
„Wachsende Ungleichheit in vielen Ländern bedeutet Risiken für den sozialen Zusammenhalt und das Wohlergehen unserer Bürger.“ Deshalb wollen die G20 vor allem „mehr und bessere Jobs“ schaffen und bis 2025 um 15 Prozent mehr schwer zu vermittelnde Jugendliche in eine Arbeit bringen.
„Um ein weltweit faires und modernes internationales Steuersystem zu schaffen“, wollen die G20 und die OECD die Steuervermeidung internationaler Konzerne unterbinden. Die Firmen sollen dort Steuern zahlen, wo Investitionen getätigt werden und Gewinne anfallen. Die Steuerbehörden verschiedener Länder sollen verstärkt Daten austauschen.
„Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit“, heißt es im Entwurf. Die G20 setzen auf einen Erfolg der Weltklimakonferenz in zwei Wochen in Paris, sie haben den Verhandlungen aber wenig neuen Schwung gegeben. Die Gipfelerklärung spart heikle Punkte einfach aus. Weder ein Überprüfungsmechanismus, der weitere Einschnitte bei den Treibhausgasen in Zukunft möglich machen soll, noch der unzureichend gefüllte Klimafonds für ärmere Länder werden ausdrücklich erwähnt.
„Die reale Lage und die grundlegenden Wirtschaftsdaten sind besser, als die Volatilität in den Märkten glauben machen kann. Es gibt keinen Anlass für Krise“, sagte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Er wolle die Lage nicht schön reden. Aber: „Wir wollen den Übertreibungen entgegen treten.“ Bundesbankchef Jens Weidmann sekundierte, die Lage an den Finanzmärkten sei „besser als ihr Ruf“.
Erwähnte Probleme haben die G20-Länder einfach allesamt in das Abschlußkommuniqué gepackt, ein paar Zeilen, die keiner recht liest und die niemandem wehtun – und das 24 Stunden vor dem Ende des Gipfels so gut wie fertig vorlag. Doch als Tenor sollte wie gesagt haften bleiben: 2016 ist nicht 2008, das Jahr also, in dem die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds taumelte.
Und es stimmt ja: Die fundamentalen globalen Wirtschaftsdaten sind gar nicht so übel. Es ist keineswegs auszuschließen, dass in Europa und anderswo die Märkte – auch aus Eigeninteresse mancher Marktakteure – überreagieren. „Es gibt Bedrohungspotential“, sagte Schäuble, aber: Man müsse einfach den eingeschlagenen Weg struktureller Reformen geduldig fortsetzen.
Doch bei genauerem Hinhören war auch beim leisen Treffen in Shanghai die Verunsicherung sehr gut zu hören. Klar, man vertraut der Führung in China. Aber dass die Machthaber dort nervös sind, ist unbestritten. Natürlich, man ist zufrieden mit den allgemeinen Wirtschaftsdaten, doch auf geringere Wachstumsdaten als erhofft muss man sich dennoch einstellen. Selbstverständlich will insbesondere Schäuble keine neuen globalen Konjunkturprogramme auf Pump, aber davon müssen andere Partner überzeugt werden. Und der Begriff „Strukturreformen“ bleibt so umstritten wie eh und je, nicht nur in der Eurozone.
Hinzu bleiben viele Fragen offen. Angeblich, ist zu vernehmen, habe sich in G-20-Kreisen die Einsicht durchgesetzt, extrem lockere Geldpolitik könne nicht der Königsweg aus der Krise sein – aber was heißt das konkret? Droht ein neuer Abwertungswettlauf unter den Industrienationen? Und was geschieht, wenn die amerikanische Wirtschaft wirklich zurückfällt, wie manche befürchten, Brasilien vom heimischen Korruptionsskandal zerrissen wird und Länder wie Mexiko im Drogensumpf versinken?
Grundsätzlicher noch: Wie sehr könnten neue wirtschaftliche Turbulenzen jene weltweiten Abstiegsängste gerade der Mittelklasse befeuern, jene globale Spaltung zwischen Habenden und Habenichtsen, die auch die Flüchtlingskrise befeuern? Diese Ängste treiben vor allem Schäuble um, er diagnostiziert ein weltweites Bedürfnis nach „Stabilität“.
Um diesen Ängsten zu begegnen, werde es mehr Investitionen geben müssen, etwa in Europas Umland, "sicherheitspolitisch, entwicklungspolitisch, kurzfristig auch in der Hilfe", sagt Schäuble. Doch wer soll das bezahlen? Letztlich jene Staaten, die dafür Luft haben, und das ist aus Sicht anderer Länder: Deutschland.
Schäuble sieht das anders, schließlich wackelt gerade sein großes Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes, die "Schwarze Null", er will sie für das kommende Jahr nicht mehr garantieren. Zwar ist 2016 also noch lange nicht 2008 – aber das heißt noch lange nicht, dass keine neue Krise droht.