Tauchsieder
Über 2000 Menschen nehmen am 8. Oktober an einer pro-israelischen Solidaritätskundgebung vor dem Brandenburger Tor teil. Quelle: imago images

Israel? Schulterzucken.

Deutschland steht an der Seite Israels. Aber wo stehen die Deutschen? Sie wollen nichts Falsches sagen – und bleiben moralisch indifferent. Sie wollen nicht wahrhaben, was auf dem Spiel steht – und sind trostlos unpolitisch. Eine Kolumne.

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Was ist daran nicht zu verstehen? Fundamentalistische Terroristen fallen in ein demokratisches Land ein, metzeln wahllos und mordhungrig 1300 Menschen nieder: Alte, Frauen, Kinder, Säuglinge. Sie entführen weitere 200 Menschen, ängstigen, demütigen, misshandeln, bespucken sie – degradieren sie zu einer Handelsware, zu einem Schutzschild, zu einem Erpressungsgut. Was ist daran nicht zu verstehen?

Die islamistischen Eiferer verachten alles, was Europa seit der Aufklärung ideell heilig ist: seine Freiheit, seine Toleranz, seine Vielfalt, die Universalität der Menschenrechte. Die mafiösen Theokraten nehmen zwei Millionen Araber in Gaza in Geiselhaft für ihre genozidalen Ziele, für die Vernichtung Israels und die Vertreibung der Juden. Sie halten die Menschen dort in Armut und Elend, um sie wie Zornkollektive bewirtschaften zu können, indoktrinieren Kinder mit Hassparolen, um sie zu entmenschlichen – sie zu willenlosen Werkzeugen eines angeblich höheren Willens herabzuwürdigen. Was ist daran nicht zu verstehen?

Und weiter: Die Hamas in Gaza und die Hisbollah im Libanon stehen unter der Kuratel der islamischen Theokratie in Iran, zu dessen Staatsräson die Auslöschung Israels zählt. Die Ajatollahs interessieren sich für die Handlangerdienste gefügiger Terrormarionetten in Gaza, nicht aber für eine Zweistaatenlösung im Sinne der Araber in Palästina – und schon gar nicht für eine Normalisierung der politischen Beziehungen Israels mit den arabischen (Nachbar-)Staaten Bahrein, Sudan, Marokko, Vereinigte Arabische Emirate und Saudi-Arabien („Abraham Accords“). Im Gegenteil.

Schneller schlau: Hamas

Iran ist an einer Destabilisierung des Raums und an einer instrumentellen Muslimisierung des Nahostkonflikts auf Kosten Israels interessiert, an Bildern toter Kinder im Gazastreifen und an der Vergiftung menschlicher Seelen durch  Falschnachrichten über die Brutalität landräuberischer Zionisten, an einem von Russland und China unterstützten Machtzuwachs in der Region und an einer Entkräftung des zweiten Todfeinds, der USA: Die Vereinigten Staaten sollen als Hüter der „internationalen Ordnung“ geschwächt werden, um die internationale Ordnung selbst zu schwächen.

Gräueltaten sind nicht kontextualisierbar

Deshalb die Unterstützung Russlands durch den Iran in seinem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine; deshalb auch die parteiische Unentschiedenheit Chinas in beiden Konflikten: Das altkoloniale Europa soll als doppelmoralischer Büttel der Vereinigten Staaten und weltpolitisch impotenter Akteur vorgeführt werden (Ukraine, Serbien, Armenien). Und die USA selbst (die nach ihrem schändlichen Krieg gegen den Irak nicht mehr „imperial“ auftreten wollten) sollen in den „overstretch“ gezwungen werden – das ist der Plan in Peking, Moskau, Teheran.

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Was ist daran nicht zu verstehen? Bei Gräueltaten wie denen der Hamas handelt es sich um Zivilisationsbrüche, die nicht kontextualisierbar sind, sondern nur außerhalb allen Kontextes verständlich werden: als Statements elementarer Amoralität. Wer sie dennoch in einen Zusammenhang stellt, unterschreibt nicht nur seine moralische Bankrotterklärung, sondern verkennt auch die politische Dimension des Terrors: Die vom Iran unterstützten Hamas wollen der Welt gerade nicht als reagierendes Opfer einer Besatzungsmacht, sondern als mörderische Überzeugungstäter erscheinen – so wie auch der Iran und Russland mit dem Segen Chinas als faktenschaffende Mächte auftreten, um die Nachkriegsordnung zu revidieren und die Welt neu einzuteilen in antiwestliche Einflusszonen, um die Gleichrangigkeit von Völkerrecht und Menschenrechten zu dementieren – und gewaltsam Grenzen zu verschieben.



Vor diesem dreifachen Hintergrund – die (a)moralische Eindeutigkeit des Hamas-Terrors, der Vernichtungswille des Iran im Hinblick auf Israel und die Juden sowie die geopolitische Dimension des Nahostkonflikts – ist es nicht nur irritierend, sondern auch beschämend, wie scheu, bang und zittrig viele Europäer und Deutsche, zumal Deutsche, seit nun zwei Wochen an der Seite Israels stehen.

Das Leben steht nicht still wie nach den Anschlägen der Islamisten in den USA (2001). Man sieht nur wenige israelische Flaggen an öffentlichen Gebäuden und Balkonen. Und stößt in den „Sozialen Medien“ allenfalls zufällig auf Profile von Politikern, Bürgern, Unternehmen, die sich erkennbar mit Israel identifizieren und solidarisieren wollen. Kein Kerzenmeer, kein spontaner Trauerzug, kaum demonstratives Beileid in den ersten vierzehn Tagen.

Podcasts mit Offenbarungseiden deutscher Scheinintellektueller

Statt dessen allabendliche Demonstrationen importierten Antisemitismus'. Hämisch ausgestellte Mitleidsarmut in Berlin-Neukölln. Forcierter Whataboutism von Islamverbänden. Schuldkomplex-Stereotype von postkolonial Diskursverwirrten („Free Palestine from German guilt“). Podcasts mit Offenbarungseiden deutscher Scheinintellektueller („Diamanthandel und Finanzgeschäfte“). Stigmatisierende Schmierereien an Hauseingängen. Routinierte Schuldzuweisungen an die Adresse Israels, auch von Ministern europäischer Regierungen (Spanien). Szenen intellektueller Selbstverwahrlosung an amerikanischen Eliteuniversitäten („Israel is a genocidal state“). Und natürlich das prominente Schweigen, Lavieren, Verallgemeinern derer, die ansonsten immer was zu texten haben, wenn sie die spezifische Diskriminierung Schwarzer, Schwuler, Adipöser, Queerer wittern – aber „Jewish lives matter“ nicht über die Lippen bringen.

Statt dessen auch, von regierungsamtlicher Seite, wieder und wieder, die monströse Formel von der „Staatsräson“ Deutschlands – ein einschüchternd hoher Selbstanspruch mit potenziell eminenten (Kriegs-)Folgen, von denen selbst die Regierenden nicht zu sprechen wagen. Trotzdem sollen die Deutschen eindeutig Stellung beziehen und unbedingt an der Seite Israels stehen, noch dazu aus der größten aller geschichtlichen Verantwortungen heraus, aus Schuld, Scham und Pflicht: „Nie wieder ist Jetzt“. Alle demokratischen Parteien, die beiden christlichen Kirchen, der Zentralrat der Juden, Arbeitgeber und Gewerkschaften fordern die Deutschen auf, „gegen Terror, Hass und Antisemitismus“ zu demonstrieren. Kein Problem, da dürften die meisten mitgehen. Aber wie weit reicht die „Solidarität mit Israel“?

Tatsächlich ist es doch wohl so: Viele durchschnittliche Nachrichtenkonsumenten mit einem peripherem Interesse für Außenpolitik wollen vor allem nichts Falsches sagen, wenn die Sprache auf Israel und das Judentum kommt. Sie sind eingeschüchtert von der Komplexität des Nahostkonflikts und vom Ineinander historisch, religiös, völkisch, staatlich, kolonial, politisch bedingter Konfliktlinien. Sie trauen sich daher nicht zu unterscheiden zwischen Feinden der Freiheit und Fehlern der Freunde, bleiben moralisch indifferent, trostlos unpolitisch – und blind für welthistorische Umbrüche.

Vielleicht helfen drei simple rhetorische Fragen? Erstens: Wie viele Juden duldet die Hamas im Gazastreifen? Zweitens: Welche der Konfliktparteien ist resonanzfähig für Anrufungen im Namen der Humanität und des Völkerrechts? Drittens: Welches Land ruft zur Vernichtung eines anderen Lands auf und erheischt den Beifall vieler „Glaubensbrüder“ weltweit, die sich den Tod anderer Menschen wünschen, nur weil sie anderen Glaubens sind?

Vielleicht hilft auch eine schlichter Aussagesatz: Es ist bemerkenswert, dass nur wenige Muslime, Araber und arabischstämmige Deutsche hierzulande erkennbar Mitgefühl zeigen mit israelischen Terroropfern und offenbar kaum fähig sind zu einer wutlosen Trauer um Kriegsopfer in Gaza. Oder wie wäre es mit einer doppelten Hypothese: Wenn die Hamas heute die Waffen streckte, hätte der Frieden morgen eine Chance in der Region – wenn aber Israel heute die Waffen streckte, würden die Juden dort morgen ermordet und vertrieben.

Einverstanden? Nun, wer diese Dissonanzen und Asymmetrien akzeptiert, kann in diesen Wochen weder moralisch noch politisch indifferent sein. Der weiß, auf wessen Seite er zu stehen hat – vor aller Geschichte des Nahostkonflikts und politischen Kritik an Israel. Umgekehrt gilt: Wer einen Widerspruch konstruiert zwischen der Ablehnung israelischer Siedlungspolitik und der Verurteilung terroristischer Gewalt gegen unschuldige Zivilisten, steht bereits auf der falschen Seite. Es gibt mit Blick auf den Schutz Israels kein relativierendes „Ja, aber“, sondern nur ein kategoriales „Ja, und“, das moralische und politische Prämissen entschieden markiert – und mit Praktiken institutionalisierter Gegenrede, historischer Sensibilität und moralischen Selbstansprüchen verbindet.

Palästina-Frage ist wieder auf der Tagesordnung der Weltpolitik

Und so geschieht es ja auch. Kein ernstzunehmender Historiker (im Westen) bezweifelt, dass die Shoah die Gründung des Staates Israel beschleunigt hat. Dass einige zionistische Bewegungen sich vorstellen konnten, die Diaspora des israelischen Volkes etwa auch in Argentinien oder Uganda zu beenden. Dass die britische Mandatsherrschaft („Balfour-Deklaration“, „Peel-Doktrin“) sich vor 100 Jahren durch eine altkoloniale Politik der Federstriche und akzidentiellen Opportunitäten auszeichnete und eine Verständigung zwischen Juden und Arabern erschwerte. Dass die Gründung des jüdischen Staates nach der Ermordung von sechs Millionen Juden vor allem der westlichen Welt ein Anliegen war. 

Aber natürlich bezweifelt auch kein Historiker, dass die Araber der Region unter Amin al-Husseini mit den Nazis paktierten, den mehrheitlich beschlossenen Teilungsplan der Vereinten Nationen ablehnten, Israel seither mehrfach den Krieg erklärten – und dass das palästinensische Volk vor allem eine Idee Jassir Arafats ist. 

Kurzum: Niemand im politisch interessierten Westen – am wenigsten die Israelis selbst – müssen über die widerspruchsreiche Geschichte des Nahostkonflikts belehrt werden. Erst recht nicht in diesen Wochen.    

Nicht nur vor diesem Hintergrund waren die Ad-Hoc-Nahostpolitik der Joe-Biden-Administration und die diplomatischen Bemühungen der Bundesregierung in den vergangenen zwei Wochen souverän, um nicht zu sagen: vorbildlich. Teheran und die Hamas haben die Palästina-Frage wieder auf die Tagesordnung der Weltpolitik gehoben, den Nimbus Israels als sicheres Land und überlegene militärische Regionalmacht zerstört, die „Abraham Accords“ unterlaufen und  weite Teile der Bevölkerungen der islamischen Welt gegen Israel mobilisiert.

Und Joe Biden? Behielt die Nerven. Er beorderte einen Flugzeugträger in die Region, um die Hisbollah und Teheran abzuschrecken („Don’t“). Er richtete in Außenminister Anthony Blinken (und in Abstimmung mit Kanzler Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock) eine Art diplomatischen Dauerdienst ein, um die empörungsbereiten Gemüter in den Nachbarstaaten abzukühlen. Er warnte Israel in aller Freundschaft, sich nicht von seinem Zorn vereinnahmen zu lassen – und half dem schwer verwundeten Land mit Blick auf die Fehler der USA, auch im Krieg gegen Terroristen eine Grenze zu markieren zwischen Zivilität und Barbarei, Humanität und Hass.

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Nicht auszuschließen, dass am langen Ende auch die arabische Welt davon Notiz nimmt – und erkennt, dass Faschismus und Imperialismus längst von Berlin und Washington nach Moskau und Teheran umgezogen sind. Dann bliebe nur noch eine Frage: Wer sagt’s den Harvardstudenten und Postkolonialisten?


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