Tauchsieder
Links: Moskau. Ein Polizeibeamter bereitet sich auf die Festnahme von Dmitry Reznikov vor, der vor dem Kreml im Hintergrund ein weißes Blatt Papier mit acht Sternchen in der Hand hält, die auf Russisch für «Nein zum Krieg» stehen könnten. Ein Gericht befand ihn der Verunglimpfung der Streitkräfte für schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 50.000 Rubel (618 US-Dollar). Rechts: Shanghai. Polizisten in Schutzanzügen halten einen Mann fest. Anwohner protestieren gegen die Umwandlung benachbarter Wohngebiete in Isoliereinrichtungen für das Coronavirus (COVID-19). Quelle: REUTERS

Putins alte Diktatur – und Xis moderne Tyrannei

Freundschaft zwischen Moskau und Peking? Nicht täuschen lassen. Die Demokratien des Westens bekommen es nicht mit einem autokratischen Block zu tun. Sondern mit zwei Ländern, die unterschiedlicher nicht sein können.

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Spätestens nach zwei, drei Tagen meint man alle Birken dieser Welt gesehen zu haben. Der Zug schleicht durch die Taiga, und immer dieselbe Herbstlandschaft zieht mit immer derselben Trägheit am Fenster vorbei, im unbewegten Rhythmus der Bahnschwellen, die phlegmatisch pochen, im Quintverhältnis 2:3 zum Ruhepuls, wie entspannend. Man liest Gontscharows Oblomow, wie passend, schaut abwechselnd ins Buch und aus dem Fenster, schläft und dämmert 23 Stunden täglich, von Zeitzone zu Zeitzone, lässt willenlos Stunden, Tage, Nächte verstreichen, angenehm enthoben allen Empfindens für das Datum, den Wochentag, die Uhrzeit, schreckt kurz hoch, wenn der Zug in Perm oder Omsk hält, in Novosibirsk oder Krasnojarsk, lässt sich von alten Mütterchen auf den Bahnsteigen ein paar heiße Kartoffeln und Teigtaschen durchs Fenster reichen – und wartet dann wieder ab, trinkt Tee, der Samowar ist immer voll mit heißem Wasser, darauf kann man sich verlassen in diesem Zug, der von Moskau unterwegs ist nach Wladiwostok.

Vier Wochen Russland im September und Oktober 2001, anschließend weiter nach China, Südostasien: Umzug nach Singapur, die Container sind auf dem Weg, das dauert, was liegt da näher als eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn? Vier, fünf Tage Moskau, je zwei, drei in Irkutsk und am Baikalsee, in Ulan Ude, Khabarowsk, Wladiwostok, wenn schon, denn schon, erst im sagenhaft breschnewjetischen 6000-Betten-Hotel Rossija (die schweren Vorhänge! die belebten Teppiche! die tanzenden Kakerlaken!), anschließend im Zug und bei Privatfamilien, die sich als Gastgeber ein bisschen was dazuverdienen (die Plattenbausiedlungen! die düsteren Treppenhäuser! die tanzenden Kakerlaken!).

Die Gespräche am Abend kreisen um die Terroranschläge auf das World Trade Center und die Hoffnung auf schnelle Wohlstandszuwächse in Russland, um die parasitäre Oligarchenwirtschaft und die Hoffnungen der Mittelschicht, um den jungen Staatschef Wladimir Putin, die Vorzüge einer demokratisch verfassten Gesellschaft und die neuen, globalen Informationsräume des Internets, um die deutsch-russische Geschichte natürlich und die Verbrechen der Wehrmacht, „Barbarossa“, Stalingrad – und um die Zukunft eines kulturstolzen Russlands in Europa: Eine Unterhaltung zwischen Deutschen und Russen entspinnt sich damals nicht über das Wetter oder den Fußball, sondern über Dostojewski und Goethe, Stravinsky und Beethoven, Kandinsky und Nolde, Kropotkin und Nietzsche, Lenin und Marx – sei es in Moskau oder in Wladiwostok.

Und heute? Lieber nicht dran denken. Wladimir Putin zerstört in diesen Wochen nicht nur die internationale Ordnung, erklärt nicht nur dem Liberalismus und der Demokratie, den Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker den Krieg. Sondern er zerschneidet auch das starke kulturelle Band zwischen Russland und Europa. Kein Tourist wird mehr Bekanntschaft mit Putins Diktatur schließen wollen, sich dem Risiko einer Verhaftung aussetzen, nur weil er auf dem Newski-Prospekt zufällig ein gelbes T-Shirt zur Blue Jeans spazieren trägt. Die Hiltons und Hyatts ziehen sich zurück aus dem Land. So wie es auch die Mastercards und Visas tun.

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Aber das größte Land der Erde verschwindet nicht nur als Destination von der Weltkarte. Sondern auch als Seelen-Sehnsuchtsort der Deutschen und europäische Kulturnation von Rang und Bedeutung. Im vergangenen Schuljahr haben noch 94.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland Russisch gelernt, ein Minus von 83 Prozent gegenüber 1992/93 (565.000 Kinder und Jugendliche). Nun erlischt ziemlich sicher schnell das verbreitete Restinteresse in Ostdeutschland an der Sprache. Auch der Trend, sich gegen ein Studium der Slawistik (Leipzig: 600 Studierende vor 15 Jahren, heute: 250) zu entscheiden, dürfte sich in den kommenden Jahren deutlich verschärfen – es sei denn, die Unis bieten jetzt flugs Ukrainistik und Baltistik an. Und von den Lehrstühlen für Osteuropäische Geschichte wird klarer denn je das Signal ausgehen, dass es eine lineare Nationalgeschichte, so wie Russland sie sich selbst gern erzählt (Kiewer Rus - Moskauer Reich - Petersburger Zarenimperium - sowjetisch-russisches Moskau) historisch nicht haltbar ist – und aufgegeben werden muss zugunsten einer Geschichtsschreibung, die die komplexe Herausbildung ethnisch geprägter Selbstverständnisse und den Eigenwert pluraler, nationaler, kultureller und religiöser Identitäten zwischen Ostsee, Mittelmeer und Schwarzmeerküste in ihr Zentrum rückt.

Natürlich werden auch Literatur- und Musikliebhaber künftig Puschkin und Tchaikovsky anders lesen und hören, nämlich mit deutlichen Anklängen an den Putinismus – so wie wir Deutsche es gewohnt sind, Nietzsche und Wagner dissonant und verfremdet, nämlich durch Hitler und den Nazismus hindurch zu lesen und zu hören. Der abschätzige Blick zum Beispiel, den Puschkin in seinem Versepos „Poltawa“ und Tchaikovsky in seiner Oper auf „Mazeppa“ werfen; die Grausamkeit, die sie dem ukrainischen Kosaken (1639 - 1709) unterstellen; die Eindeutigkeit, mit der sie Mazeppas Freiheits- und Unabhängigkeitskampf als Verrat an der russischen Sache markieren – das alles wird künftig nicht mehr als Reiterfolklore und schon gar nicht als Stereotyp des ungezogenen Brudervolkes durchgehen – sondern zwingend zum Politikum, wann immer das Stück aufgeführt wird.

Oder nehmen wir Schostakowitschts Siebte Sinfonie (1939/42): Wer wird beim furchterregenden „Invasionsthema“, den drängenden Trommelwirbeln und stampfenden Rhythmen der „Leningrader“ künftig nicht auch an den Vormarsch der Russen anno 2022 und die Vernichtung von Mariupol denken? Bisher hat man die ersten Minuten der Sinfonie als Sozialismusidyll gehört, das von einer erbarmungslos vorrückenden Todesmaschine der Wehrmacht niedergewalzt wird – gefolgt von einer Trauermusik, das die Gespenster des Schreckens nicht vertreiben kann: Putins zweijähriger Bruder Witja starb damals im belagerten Leningrad. Heute vernimmt man in Schostakowitschs Musik selbstverständlich auch ukrainische Unbekümmertheit, russische Brutalität – und trauriges Entsetzen über Butscha.

Einen irreparablen Schaden nimmt dabei vor allem unser romantisch geprägtes Bild von der russischen Seelentiefe, von der Duldsamkeit und Leidensfähigkeit des russischen Volkes, seiner Schwermut und Düsternis – man höre nur mal die zernichtende Ödnis von Schostakowitschs 15. Streichquartett, um nachzuempfinden, was der russische Philosoph und Nationalseelenkundler Nikolai Berdjajew (1974 - 1948) so umschrieben hat: „Das historische Los des russischen Volkes war es, unglücklich und reich an Leiden zu sein. Seine Geschichte ist erfüllt von Erschütterungen, Katastrophen und plötzlichen Wandlungen, manifestiert sich im Charakter der dem Land eigenen Zivilisation.“ Oder man badet gleich mit Dostojewski im Mythos der Melancholie, in der Transzendenz der Tragik, die Russland und den Russen angeblich eignet: „Ich glaube, das wichtigste… geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis, immer und unaufhörlich, überall und in allem zu leiden. Mit diesem Lechzen nach Leid scheint es von jeher infiziert zu sein. Der Strom der Leiden fließt durch seine Geschichte; er kommt nicht nur von äußeren Schicksalsschlägen, sondern entspringt der Tiefe des Volksherzens. Das russische Volk findet in seinem Leiden gleichsam Genuss.“

Diese Sätze lesen sich mit Blick auf den Vernichtungsfeldzug der Deutschen im Zweiten Weltkrieg zynisch. Aber sie sind aufschlussreich für die wechselseitigen Selbstbilder und Fremdzuweisungen, mit der vor allem Deutsche und Russen sich seit 1945 begegnet sind – und künftig nicht mehr begegnen werden. Denn der Große Vaterländische Krieg war nicht nur „der wichtigste Gedächtnisort“ und „die existenzielle Legitimation der späten Sowjetunion“ (Andreas Kappeler) – sondern er wurde von Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion und „pater familias“ der geteilten Heimat und des heroisch verteidigten Vaterlands auch geschichtspolitisch monopolisiert. Es waren die „Völker Russlands“, die den Feind mit „eiserner Geisteskraft“ (Putin) zurückgedrängt hatten – und Putin ist sich sicher, dass es auch heute noch in ihrem „Charakter“ liegt, „ihre Pflicht zu erfüllen, sich selbst nicht zu schonen, wenn die Umstände dies erfordern“.

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