Türkei vor der Präsidentschafts-Entscheidung Wenn nichts mehr hilft, hilft den Türken Gold

Ein Juwelier in Ankara Quelle: imago images

Mit komplexen Maßnahmen versucht die türkische Zentralbank, die Goldflucht ihrer Bürger einzudämmen – während die Parteien vor der Stichwahl den wirtschaftlichen Frust in fremdenfeindlichem Populismus kanalisieren.

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Wie sehr Gold als das Mittel zum Werterhalt in der türkischen Gesellschaft gilt, zeigen Berichte aus der vom Erdbeben zerstörten Region im Südosten. Immer wieder sollen Hausbesitzer dort Wachleute angeheuert haben, um die Ruine vor Plünderern zu schützen. Denn irgendwo unter dem Schutt begraben liegen die Vermögen von Familien, die sonst alles verloren haben, in Form von Goldbarren.

Gold schenkt man sich in der Türkei zur Hochzeit, zur Geburt oder zum Geburtstag. Es ist das traditionelle Hausmittel, gewachsen aus der Jahrhunderte alten Erfahrung von Regierungs-Willkür und Geldentwertung.

Mit der immer weiter steigenden Inflation der vergangenen Jahre hat sich für viele der Sinn dieser Tradition abermals bewahrheitet. Spätestens seit die Inflation in der Türkei zweistellige Werte erklommen hat – derzeit liegt sie bei 40 Prozent – stecken die Türken ihr Vermögen in alles, was irgendwie seinen Wert besser hält als die türkische Lira: US-Dollar, Euro, Gold, Immobilien. Sogar die Kryptowährung Bitcoin ist in der Türkei bekannter und beliebter als anderswo.

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Kurz vor der Wahl hat die türkische Zentralbank Gesetze erlassen, um die Goldflucht der Bevölkerung einzudämmen. Die Erlasse sind komplex und richten sich in erster Linie an die Banken des Landes. Die nämlich sollen die bestimmte Käufe ihrer Kunden erschweren, und so die Kapitalflucht eindämmen.

Kauft jemand zum Beispiel mit einer Kreditkarte Gold oder Schmuck, muss die jeweilige Bank türkische Staatsanleihen in Hohe von 30 Prozent des Kaufwertes erwerben, sofern diese über einem Limit von 50.000 Lira liegen, derzeit rund 2500 US-Dollar.

Dasselbe gilt für Bargeld. Kreditgeber müssen Staatsanleihen im Gegenwert von 30 Prozent des mit Kreditkarten abgehobenen Bargelds kaufen. Dasselbe gilt, wenn das Kreditwachstum drei Prozent über dem vorangegangenen Berechnungszeitraum liegt. Einige Wochen zuvor schon hatte die Regierung den Dollar-Wert von Lira-Einlagen garantiert, sprich die Zentralbank musste einspringen, um einen etwaigen Wertverlust auszugleichen.

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Diese komplexen Maßnahmen dürften dazu dienen, den überhitzten Kreislauf zu verlangsamen und die Kapitalflucht zu erschweren. Seit dem Jahr 2021 hat das sich das Kreditwachstum in der Türkei rapide beschleunigt. Gleichzeitig machen sie für die Regierung einfacher, sich zu verschulden. Auch die Immobilienpreise haben in diesem Zeitraum stark zugenommen – übrigens selbst inflationsbereinigt ist das Wachstum enorm: seit 2019 im Schnitt um 20 Prozent.

Die wirtschaftlichen Probleme des Landes aber dürften mit solchen Maßnahmen nicht gelöst werden können. Bei der Wahl am 14. Mai hatte weder der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan noch Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu die absolute Mehrheit holen können. Überraschungssieger war der Rechtsaußen-Kandidat Sinan Ogan. Die Opposition hat nun ihren Wahlkampf darauf ausgerichtet, mit den Stimmen am rechten Rand die erneute Wahl am kommenden Sonntag zu gewinnen. Oppositions-Kandidat Kılıçdaroğlu kündigte an, die „zehn Millionen Flüchtlinge“ alsbald aus dem Land bringen zu wollen. Wie der CHP-Vorsitzende auf diese Zahl kommt, ist vielen schleierhaft. Offiziell leben 3,6 Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge in der Türkei. Hinzu kommen noch einige Hunderttausend Afghanen, Iraker und Iraner.

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Sein Statement aber verdeutlicht, dass die Parteien jetzt versuchen, die wirtschaftlichen Probleme auf die Flüchtlinge zu schieben. Tatsächlich greift die Anti-Flüchtlings-Stimmung gerade bei vielen Türken, die der Opposition nahestehen. Das Stadtbild Istanbuls hat sich in den vergangenen Jahren verändert: Armut ist offensichtlicher und krasser. Bettelnde Kinder und sogar verschleierte Frauen, die in Essensresten wühlen, sind mittlerweile kein ungewöhnlicher Anblick mehr. Die Müllsammler, die mit ihren Karren die engen Gassen hinauf keuchen und hinab rasen, sind meist afghanischer oder syrischer Herkunft – daran hat sich in den vergangenen zehn Jahren nichts geändert.

Mittlerweile aber sind die wirtschaftlichen Probleme des Landes so groß geworden, dass sie nahezu für jeden im Alltag spürbar sind: Fleisch können sich viele ärmere Familien nur noch einmal im Monat leisten. Die Inflation hat die Ersparnisse der Mittelschicht aufgefressen. Die wirtschaftliche Frustration, die viele Türken deshalb verspüren, macht sie von der Politik leicht kanalisierbar. „Ich will nicht eine Zweite-Klasse-Bürgerin in meinem eigenen Land sein“, sagt Dilan, eine Grafikerin Ende 30 aus Istanbul.



„Es ist doch eigentlich ganz einfach – ohne die Millionen Flüchtlinge bleibt mehr für uns“, sagt Veysel, ein Istanbuler Architekt. Beide möchten nicht namentlich genannt werden, aber beide zählen sich zu der säkularen Schicht des Landes, die Alkohol trinkt, sich nicht verschleiert und auf eine Abwahl Erdogans hofft.

Dass eine wirtschaftliche Kehrtwende wesentlich länger dauert, als es die Politik verspricht, und mit den Flüchtlingen nicht viel zu tun hat – das wiederum trauen sich die Wahlkämpfer nicht auszusprechen. Nötig wäre die Rückkehr zu einer orthodoxen Geldpolitik. Das bedeutet, die Zentralbank müsste die Zinsen stark anheben. Dies würde sich negativ auf die Konjunktur auswirken und zunächst mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzen. Parallel dazu wären bessere Beziehungen zur EU und den USA notwendig, um den Boden für Investitionen und Kapitalzuflüsse zu ebnen. Kein leichter Weg – für viele Türken würde es wirtschaftlich erst noch einmal weiter bergab gehen, bevor sich die Lage wirklich bessert.

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Und so dürfte denn auch der Gold-Durst der Türken erstmal anhalten: Im vergangenen Jahr beliefen sich die Einfuhren des Edelmetalls auf 20,4 Milliarden Dollar, fast viermal so viel wie ein Jahr zuvor.

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