Als Hillary Clinton am 8. März aufstand war die Welt noch in Ordnung. An diesem Tag wählten die Menschen in Michigan ihren demokratischen Präsidentschaftskandidaten. Clinton war gelassen, die Umfragewerte waren schließlich völlig klar: Sieg für Clinton, mit Abstand, mindestens 20 Prozent. Doch dann wurde ausgezählt. Erst war da Irritation, dann Verwunderung und schließlich die blanke Überraschung: Bernie Sanders gewann die Wahl.
Wie konnten die Wahlforscher derart irren? Und vor allem: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das auch am 9. November passiert? Ein Brexit-gleicher Schock-Moment, ein Aufwachen in der Ära Trump?
Kamil Marcinkiewicz ist Politikwissenschaftler an der Universität Hamburg. Er weiß, wie die Wahlforscher zu ihren Zahlen kommen und sagt: „Die Umfragen in Amerika können trügerisch sein. Sie geben zwar ein Stimmungsbild ab, sollten aber mit Vorsicht interpretiert werden.“ Auch andere Experten warnen darauf, sich auf die Vorhersagen zu verlassen.
Die Prognosen haben gleich mehrere Schwachstellen.
1. Umfragemethode
Politische Umfragen werden in Amerika über das Telefon durchgeführt. Das Problem: Viele Amerikaner besitzen keinen Festnetzanschluss mehr. Über die Hälfte nutzt nur noch das Handy als Telefon – und sind damit unerreichbar für die Wahlforscher.
„Menschen, die nicht im Telefonbuch stehen werden ebenso wenig erreicht wie die, die noch bei ihren Eltern gemeldet und längst weggezogen sind“, sagt Tim Büthe, Professor für Internationale Beziehungen an der TU München.
Das verzerrte beispielsweise in Michigan die Vorhersagen. Denn Bernie Sanders‘ Wähler kamen vor allem aus der jungen Wählerschaft und beteiligten sich überraschend stark an der Wahl.
2. Fragebögen
„In vielen Umfragen müssen sich die Menschen zwischen Clinton und Trump entscheiden, obwohl sie einen dritten Kandidaten wählen werden“, sagt Kamil Marcinkiewicz von der Universität Hamburg. In Utah beispielsweise kommt der unabhängige Kandidat Erin McMullin auf fast gleich viele Stimmen wie Trump. In anderen Umfragen wiederum werden Alternativen zu Clinton und Trump vernachlässigt, was das Ergebnis verzerrt.
Welche Staaten tendieren zu welchem Kandidaten
Kalifornien, Connecticut, Delaware, Hauptstadt Washington, Hawaii, Illinois, Maine, Massachusetts, Maryland, Minnesota, New Jersey, New Mexico, New York, Oregon, Rhode Island, Vermont, Staat Washington (insgesamt 200 Wahlmännerstimmen)
Alabama, Arkansas, Idaho, Indiana, Kansas, Kentucky, Louisiana, Mississippi, Montana, Nebraska, North Dakota, Oklahoma, South Carolina, South Dakota, Tennessee, Texas, West Virginia, Wyoming (insgesamt 144 Wahlmännerstimmen)
Colorado, Michigan, Nevada, Pennsylvania, Wisconsin, Virginia (insgesamt 74 Wahlmännerstimmen)
Alaska, Arizona, Georgia, Iowa, Missouri (insgesamt 46 Wahlmännerstimmen)
Florida, New Hampshire, North Carolina, Ohio, Utah, Zweiter Wahlbezirk von Maine, Zweiter Wahlbezirk von Nebraska, (insgesamt 74 Wahlmännerstimmen)
Manche Wahlforscher befragen alle Amerikaner, andere wiederum nur jene, die sich zur Wahl registriert haben. Politikwissenschaftler Marcinkiewicz empfiehlt deshalb, sich Projekte anzuschauen, die verschiedene Umfragen zusammenführen, wie zum Beispiel Five Thirty Eight oder The Upshot.
3. Politisches System der USA
Die meisten Umfragen zeigen uns: Wie viel Prozent der US-Bürger würden Clinton wählen? Und wie viele Amerikaner geben ihre Stimme für Trump?
Das suggeriert jedoch, dass die Wahl auf Ebene des Gesamtstaates stattfindet. In Amerika wird jedoch auf Ebene der Einzelstaaten abgestimmt und das Ergebnis in Wahlmänner übersetzt.
Sobald jemand eine Stimmenmehrheit erreicht, bekommt sie oder er alle Stimmen der Wahlmänner – egal wie hoch die Mehrheit letztlich war. Das kann zu der Situation führen, dass jemand zwar in absoluten Zahlen mehr Stimmen gewinnen konnte und trotzdem verliert.
Zuletzt ist das vor 16 Jahren passiert: Al Gore hatte zwar insgesamt mehr Wähler gewonnen, doch die entscheidenden Staaten gingen an Bush, der daraufhin zum Präsident wurde.
Hinzu kommt, dass manche Staaten überproportional stark durch Wahlmänner vertreten sind. „In den dünnbesiedelten Staaten wie Montana, North Dakota oder Wyoming liegt Trump vorne. Das bedeutet, er könnte überproportional mehr Wahlmänner bekommen“, sagt Politikwissenschaftler Marcinkiewicz.