27. Einheitstag Vielgeteiltes Deutschland

Am 27. Einheitstag präsentiert sich Deutschland gespalten wie nie. Darauf gründet der Wahlerfolg der AfD – die Rechtspopulisten schnitten fast überall gut ab. Wie könnten Rezepte gegen die Spaltung aussehen?

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Dem deutschen Volke Quelle: dpa

Ingolstadt in Bayern ist Wohlstand pur. In der Heimat des Autoherstellers Audi und des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) herrscht bei einer Arbeitslosenquote von 2,2 Prozent annähernd Vollbeschäftigung. Trotzdem holte die rechtspopulistische AfD bei der Bundestagswahl dort 13 Prozent. Im Kreis Nordfriesland, im strukturschwachen Schleswig-Holstein, holten die Rechten dagegen nur 6,5 Prozent. In Sachsen wiederum wurden sie mit 27 Prozent stärkste Kraft, sogar noch vor der CDU. Aber auch im weltoffenen wachsenden Leipzig holten sie 21 Prozent. Die Gleichung – strukturschwache Region gleich starke Rechte – geht so ganz einfach also nicht auf.

27 Jahre nach der Einheit teilt sich Deutschland nicht nur in Ost und West, sondern in Süd und Nord, Stadt und Land. Die Fröhlichkeit, mit der die Bundesrepublik 2014 noch 25 Jahre Mauerfall feierte: Sie ist verflogen, wenn an diesem Dienstag die aus dem Osten stammende Kanzlerin Angela Merkel und der im Westen aufgewachsene Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier, in Mainz die jährlichen Feierlichkeiten eröffnen.

Ein geeintes Deutschland, das haben die Bundestagswahlen klar gezeigt, ist auch heute noch eine Illusion. Nur eine Minderheit von 36 Prozent fühlt sich als „gesamtdeutsch“. Das ergab die aktuelle Insa-Umfrage der „Bild“-Zeitung. Die Mehrheit sieht sich entweder als west- oder ostdeutsch an. Der Osten leidet noch immer unter einer geringeren Wirtschaftsleistung und niedrigerem Einkommen. Aber auch der Westen ist geteilt: Während Bayern und Baden-Württemberg eindeutig die Dauerboomer sind, tummeln sich Niedersachen und Schleswig-Holstein abgeschlagen auf den unteren Rängen. Nur eins haben sie gemeinsam: viele Stimmen für die AfD.

Die große Ratlosigkeit

Am Tag der Deutschen Einheit und neun Tage nach der Bundestagswahl sind deshalb die Politiker der etablierten Parteien vor allem eines: Vereint in Unsicherheit. „Ich bin ratlos“, war die erste Reaktion von Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) am Wahlabend. Er will in den nächsten Wochen mit Landräten und Bürgermeistern beraten, was genau denn die Menschen vor allem seines Bundeslandes so unzufrieden hat werden lassen: Es habe etwas mit der zeitweise unkontrollierten Zuwanderung 2015 zu tun, sagte Tillich im Deutschlandfunk, aber nicht allein.

Das stellt auch Iris Gleicke (SPD), die Ostbeauftragte der Bundesregierung fest. „Es gibt keine einfache Erklärung für den Erfolg der AfD. Sie hat auch in Westdeutschland sehr starke Ergebnisse erzielt“, sagte sie dem Handelsblatt, und appellierte an die künftige Bundesregierung, „jetzt ernsthaft die Ursachen zu erforschen und die Probleme zu lösen“.

Anhaltspunkte für die Ursachen der vielfältigen Spaltungen gibt es allerdings sehr wohl. Man kann sie nachlesen im jährlichen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit, im Raumordnungsbericht und in den Konjunkturanalysen des Wirtschaftsforschungsinstituts IWH-Halle. Die Demografie spielt demnach eine Rolle, die Abwanderung vom Land in die boomenden Großstädte. Außerdem fehlende Internationalität, abzulesen am Ausländeranteil: Die Fremdenfeindlichkeit ist dort am höchsten, wo die wenigsten Menschen mit Migrationshintergrund leben.

Und es zählen die Perspektiven einer Region. Kann sie mithalten im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung? Das ländlich geprägte Münsterland boomt. Die bayerische AfD-Hochburg Deggendorf dagegen ist strukturschwach wie Sachsen: Ein einziges Flüchtlingsheim wurde dort zum Anlass hochkochender Fremdenfeindlichkeit. Dem sächsischen Meißen wiederum nutzt es zu wenig, dass es schön herausgeputzt am Elbhang liegt, mit kleinen Gassen wie die alten Städtchen Italiens, wenn dort abends niemand flaniert.

„Aufgrund besserer wirtschaftlicher Perspektiven andernorts ziehen die Menschen immer noch aus den ostdeutschen Flächenländern weg“, stellt Oliver Holtemöller vom IWH nüchtern fest. Und er empfiehlt, offen mit der Lage umzugehen. „Ich erwarte keine weitere Angleichung des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts pro Einwohner an das westdeutsche. Dazu ist die Alterung im Osten bereits zu weit fortgeschritten“, sagt er.

 Angst um das kleine bisschen Wohlstand

Die Ursache für das hartnäckige Wohlstandsgefälle liegt seit Jahren in der Struktur der Ost-Wirtschaft: Kein Dax-Konzern findet sich in den neuen Ländern. Kaum große Mittelständler, fast nur kleine und mittelgroße Firmen sind seit der Wiedervereinigung entstanden. Alle einstigen DDR-Großbetriebe brachen bis 1993 zusammen oder schrumpften auf Kleinunternehmensgröße. Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt von der TU Dresden sieht die Wurzel der Wut vor allem vieler ältere ostdeutscher Männer in dieser Zeit: Wer 1990 bereits Ende 30 oder älter war und in einem Industriebetrieb arbeitete, fand häufig nie wieder eine Stelle. Und falls doch, dann eine mit weniger Sozialprestige.

Auch die grassierende Angst vor Überfremdung führt Patzelt auf diese Zeit zurück, in der alle Schlüsselstellungen der Wirtschaft und der Verwaltung mit Westlern besetzt wurden. Das Gefühl, zuhause in der Heimat nicht über die Zukunft bestimmen zu können, es wurde in dieser Zeit geprägt.


Inseln im Westen


Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 war dann der Zeitpunkt, an dem die langjährigen Entwicklungen Demografie, Strukturschwäche und Globalisierungsangst in lautstarken Protest mündeten. Nicht nur, aber zuerst und besonders anfangs, stärker in Ostdeutschland. „Viele Ostdeutsche haben Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne durchlebt. Jetzt kommt hinzu, dass nicht wenige das kleine bisschen Wohlstand, das sie sich erarbeitet haben, durch die Zuwanderung gefährdet sehen“, beschreibt die Ost-Beauftragte Gleicke die Entwicklung. „Das rechtfertigt nichts, schon gar nicht Fremdenfeindlichkeit, aber Politik und Medien müssen damit umgehen, dass viele Menschen so empfinden“, betont sie.

Der deutsche Föderalismus, die zersplitterten Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden machen es aus Sicht der Bundesregierung nicht einfacher, überall im Lande die Lebensbedingungen zu verbessern: Landesregierungen, Landräte und Bürgermeister vor Ort sind gefragt. Sie müssen vor Ort dafür zu sorgen, dass nicht in drei Kleinstädten nebeneinander überall gleichzeitig die Lichter ausgehen, sondern zum Beispiel eine Schule und ein Krankenhaus für alle gut ausstatten.

Allerdings: „Wer in einem strukturschwachen Gebiet lebt, muss erwarten dürfen, dass die Bundesregierung alles dafür tut, das es keine abgehängten Regionen gibt“, verlangt Gleicke. Das gelte für Ost wie West: „Ostdeutschland ist ein großes zusammenhängendes strukturschwaches Gebiet, während es im Westen eher einzelne Inseln sind“, sagte sie. Für die Menschen vor Ort seien die Probleme aber gleich, wenn der Schulbus das einzige öffentliche Verkehrsmittel ist oder das nächste Krankenhaus sehr weit weg liege.

Gigabit für die Stadt, Funkloch fürs Land

Die Aufgabe, überall gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen, haben die letzten Bunderegierungen ganz offensichtlich nicht erfüllt. Die Autoren des Raumordnungsberichts des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung warnten kurz vor der Bundestagswahl: „Die Schrumpfungsprozesse von Landgemeinden erfassen nach Ostdeutschland zunehmend auch Westdeutschland.“ So nahm die Zahl der Einwohner von Großstädten in den letzten zehn Jahren um 1,4 Millionen zu; in 37 Prozent der Mittelstädte und 52 Prozent der Kleinstädte hingegen schrumpfte sie.

„Ländliche Räume brauchen die gleichen Entwicklungschancen wie große Städte“, verlangt Landkreistagspräsident Reinhard Sager im Handelsblatt. „Eine gute Entwicklung in den ländlichen Gebieten liegt auch im Interesse der Städte“, erinnert er. Massiver Zuzug führe dort zu explodierenden Mieten und neuen Konflikten.

Rezepte gegen die Spaltung gibt es. Breitbandausbau zum Beispiel, sagt Sager: „Es wäre zynisch, den Landgemeinden 50 MBit zuzugestehen, die Städte aber für die Gigabit-Gesellschaft zu ertüchtigen.“  Mit echtem Breitbandausbau hätten auch Dörfer wieder die Chance auf neue Unternehmen.

Gleicke erinnert daran, dass es drei Mittel im Kampf gegen Strukturschwäche gebe: Klassische Wirtschaftsförderung, Innovationsprogramme und vor allem die Stärkung der Kommunen. Zwar habe die scheidende Bundesregierung begonnen, die Finanzkraft der Kommunen zu erhöhen, etwa mit Geld für Schulen und ist überzeugt, dass dies positive Wirkung entfalten werde. „Das funktioniert aber nicht von heute auf morgen. Entscheidend ist, dass die neue Regierung daran engagiert weiterarbeitet und nicht den Stecker zieht“, fordert sie.

Vor allem brauchen die Landkreise eine Regionalstrategie. Im Kreis Nordfriesland gibt es genau die schon seit einigen Jahren. In einem „Masterplan Daseinsvorsorge“ bestimmen die Gemeinden gemeinsam, was bei abnehmender Bevölkerung wo erhalten bleiben, und ausgebaut werden soll. Wohl auch deshalb blieb der Unzufriedenheitsindikator der AfD-Wählerstimmen mit 6,5 Prozent dort recht niedrig.

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