Freytags-Frage
Dieses Jahr war geprägt von Krisen und Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik. Christian Lindners Bundesfinanzministerium macht vier Lösungsvorschläge – und die haben es in sich. Quelle: imago images

Kann die Wirtschaftspolitik im neuen Jahr so verschlafen weitermachen?

Dieses Jahr war geprägt von Krisen und Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik. Das Bundesfinanzministerium macht vier Lösungsvorschläge – und die haben es in sich. Eine Kolumne.

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Nach einem Jahr voller Krisen und deren – mehr oder weniger abgeschlossenen – Bewältigung steht die deutsche Wirtschaftspolitik wohl vor der stärksten Herausforderung seit der Wiedervereinigung vor über dreißig Jahren. Die deutsche Einheit in den 1990er-Jahren war allerdings zugleich Herausforderung und Chance, denn – Ältere werden sich erinnern – die alte Bundesrepublik (der Westen) war ausgelaugt und strukturschwach, der Begriff Sklerose wurde zum geflügelten Wort. Die Revolution im Osten bot Politik und Wirtschaft im Westen die große Chance, Politik zu reformieren und Strukturen zu verändern. Diese Chance wurde zum größten Teil genutzt.

In einer ähnlichen Lage sind wir heute. Angesichts der geopolitischen Zuspitzung im Verbund mit den großen Herausforderungen der Gegenwart, allen voran der Klimawandel und die Radikalisierung immer weiter wachsender Teile der verunsicherten Bevölkerung, wirkt die deutsche Wirtschaftspolitik in jeder Hinsicht altbacken und total verschlafen. Gleichzeitig hat der russische Überfall auf die Ukraine die Bundesregierung gezwungen, Position zu beziehen und sich zu entscheiden, für die eigenen Werte einzustehen und diese zu verteidigen. Bundeskanzler Olaf Scholz rief die Zeitenwende aus, die tatsächlich begann, aber noch auf ihre Vollendung wartet.

Dies gilt auch, wenn nicht besonders, mit Blick auf die Wirtschaftspolitik. Angesichts der dramatischen Lage mit multiplen Krisen (Coronapandemie, Ukrainekrieg, Klimawandel, Populismus) hat der Staat immer weitere Aufgaben übernommen sowie immer größere Hilfen und Garantien ausgereicht. Dabei hat sich der Eindruck aufgedrängt, dass der Staat alles könne – der Staatsglaube ist allenthalben gewachsen. Und im Windschatten der Krise haben das Arbeits-, das Sozial- und das Entwicklungsministerium mit entsprechenden Gesetzesinitiativen (Lieferketten, Arbeitszeiterfassung) die Bedingungen für die Unternehmen noch einmal verschlechtert. Die Motive mögen ehrbar sein, denn wer könnte nicht für die Einhaltung der Menschenrechte und einen fairen Ausgleich zwischen den Tarifpartnern stimmen. Die Umsetzung ist jedoch – wie sich beim unglücklichen Auftritt aller deutschen Akteure bei der Fußball-Weltmeisterschaft deutlich zeigte – nicht unbedingt zielführend.

Sie führt überdies zu erheblichen Belastungen einer ohnehin schon durch Fachkräftemangel, undurchsichtige Steuergesetze, hohe bürokratische Hürden und stark steigende Energiepreise gebeutelten Wirtschaft; dies gilt besonders für den hierzulande offiziell so geschätzten Mittelstand. Es ist übrigens naiv zu glauben, dass diese Probleme nicht auf Arbeitnehmer abgewälzt werden, wo dies möglich ist. Am Ende verlieren alle.

Da tut es richtig gut zu hören, dass es in der Bundesregierung Akteure gibt, die die Probleme wahrnehmen und aktiv an ihrer Lösung interessiert sind. Im Bundesfinanzministerium (BMF) ist offenbar ein Papier entstanden, das als Wachstumspaket für 2023 und 2024 tituliert eine angebotspolitische Revolution – wie an dieser Stelle schon öfter eingefordert – als notwendig erachtet.

Die Vorschläge haben es in sich, denn sie kratzen am Kern der Bräsigkeit, die sich in den vergangenen Jahren in diesem Land breitgemacht hat.

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Zunächst soll die Steuerbelastung gesenkt werden anstatt sie – wie vielfach auch in Regierungskreisen gefordert – zu steigern. Dabei geht es um bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Investitions- und Forschungsausgaben, bessere Möglichkeiten der Mitarbeiterbeteiligung am Kapital sowie Steuersenkungen für Einkommen- und Körperschaftsteuer. Das ist natürlich nicht umsetzbar, wenn die Ausgaben hoch bleiben. Gleichzeitig soll deshalb die Ausgabenfreudigkeit der Regierung gesenkt werden und der Ausstieg aus den Energiepreisunterstützungsmaßnahmen (Gaspreisbremse) eingeleitet werden. Die Aussetzung der CO2-Steuererhöhung 2023 wird kritisch gesehen.

Zweitens geht es – mal wieder – um Bürokratieentlastung. Das BMF fokussiert hier auf die Steuerverwaltung und das öffentliche Vergaberecht. Beide Themen sind bereits seit langem auf der Agenda, Verbesserungen scheitern sowohl auf ministerieller Ebene als auch in der Verwaltung selber – dennoch lohnt sich jeder Versuch.

Darüber hinaus wird im Finanzministerium über die Arbeitsmarktregulierung nachgedacht. Das Abstandsgebot zwischen Lohn- und Transfereinkommen wird diskutiert, um Arbeitsanreize für Geringqualifizierte zu steigern. Kurzarbeitergeld sollte nicht so großzügig ausgereicht werden, dass sich Gewöhnungseffekte einstellen. Es geht außerdem um eine weitere Flexibilität der Arbeitszeiten sowie um Anreize für die Zuwanderung qualifizierter Arbeitnehmer.

Viertens werden weitere allgemeine Themen aufgegriffen, die nicht in der unmittelbaren Kompetenz des BMF verortet sind, aber natürlich finanzpolitische Konsequenzen haben. Dabei wird die Energieversorgung angefasst, indem sich das BMF für eine weitere Nutzung der Kernkraft und die Aufhebung des Frackingverbots einsetzt. Man spricht sich auch dafür, aus, die Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen wieder aufzunehmen; seit langem ist dies ein Anliegen des Bundesfinanzministers.

Natürlich reagieren die Koalitionspartner etwas verstimmt auf diesen Beitrag aus dem Finanzministerium. Viele Themen sind aus ihrer Sicht Tabus. Dessen ungeachtet sollte auch bei Grünen und Sozialdemokraten die Erkenntnis reifen, dass hierzulande immer weniger funktioniert und dass es gilt, diesen Zustand schnellstmöglich zu ändern. Sie sollten die Anregungen aufgreifen und ihrerseits Angebote für einen wirklichen Aufbruch unterbreiten. Die Details lassen sich dann aushandeln. Die Chancen für diesen Aufbruch stehen eigentlich gut, da die Herausforderungen der Gegenwart das öffentliche Bewusstsein für Reformbedarf drastisch erhöht haben.

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Es wäre wirklich eine Errungenschaft der bisher eher unglücklich agierenden Ampel, wenn es dazu kommt, dass die öffentliche Verwaltung nicht immer mehr – vor allem unternehmerische – Aufgaben an sich zieht, sondern sich stattdessen bemüht, sich auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren und diese gut zu erledigen. Dann könnten die Unternehmen ihren Job machen und Arbeitsplätze schaffen, den Klimawandel bremsen helfen und zur äußeren Sicherheit ihren Beitrag leisten. Wir brauchen im Jahr 2023 nichts weniger als eine Entschlackung der Verwaltung und eine Entfesselung unternehmerischer Initiativen – also tatsächlich eine angebotspolitische Revolution!

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