Nato, Bundeswehr und Angela Merkel „Der Beitritt Finnlands würde zu einer Stärkung der Nato führen“

CDU-Vorsitzende Friedrich Merz und Sicherheitsexperte Roderich Kiesewetter (v.l.n.r.) in Kiew. Quelle: dpa

Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter (CDU) musste lange zusehen, wie Deutschland trotz nahender Ukraine-Katastrophe die Truppe weitgehend ignorierte. Ein Gespräch über Finnlands Nato-Beitritt, die Bundeswehr und das Merkel-Erbe.

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Es scheint jetzt ganz schnell zu gehen. Der Präsident und auch die Ministerpräsidentin Finnlands sind für den „unverzüglichen" Nato-Beitritt ihres Landes. Am Sonntag könnte bereits der schriftliche Antrag folgen. Stimmen die derzeit 30 Mitglieder zu, hat das Verteidigungsbündnis einen Partner mehr. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte zuletzt mehrfach klargemacht: Kein Problem.

Es sind Schritte, die durch den Krieg Russlands plötzlich in einer ungeahnten Geschwindigkeit möglich werden. Sie stehen in einer Reihe mit hektisch ansteigenden Verteidigungsausgaben westlicher Staaten – der sogenannten „Zeitenwende“ – und Waffenlieferungen an die Ukraine.

Warum aber ging das nicht früher? Die WirtschaftsWoche sprach mit dem CDU-Verteidigungsexperten Roderich Kiesewetter über den ausgebliebenen Nato-Beitritt der Ukraine, über jahrelange Fehler bei der Bundeswehr und über die Schuldfrage.

WirtschaftsWoche: Herr Kiesewetter, Sie waren gerade mit Friedrich Merz in der Ukraine und haben Präsident Selenskyj getroffen. Gab es einen Moment, in dem Sie gedacht haben: Mist, hätten wir die Bedrohung durch Russland doch bloß früher ernst genommen?
Roderich Kiesewetter: Nein, ich warne wie andere Sicherheitspolitiker schon seit Jahren vor einem solchen Ereignis und fordere, dass wir unsere Sicherheitspolitik anpassen müssen, dazu gehört eine besser aufgestellte Bundeswehr

von Max Haerder, Dieter Schnaas, Sonja Álvarez, Max Biederbeck, Konrad Fischer, Daniel Goffart, Rüdiger Kiani-Kreß

Aber Bundeskanzlerin Angela Merkel samt Kabinett haben diese Warnung ignoriert?
Wir Sicherheitspolitiker wurden durchaus gehört, fanden mit unseren Forderungen aber keine Mehrheit, weder in der Koalition, der eigenen Fraktion noch in der Gesellschaft. Im Nachhinein ist man aber immer schlauer. Ich bin 2009 in den Bundestag gekommen aus einer Bundeswehr, die damals schon in sehr schwierigen Umständen war. Die inhaltliche Debatte fokussierte sich auf den Afghanistan-Einsatz. Allein dort mangelte es schon an der nötigen Ausrüstung. Soldaten lernten Einsatzfahrzeuge etwa erst im Einsatz kennen, weil es beim Training Zuhause nur die älteren Modelle gab.

Ein Problem der Organisation?
Auch ein Problem der fehlenden strategischen Kultur in der Gesellschaft, aber auch der Ministerinnen und Minister. Ich habe in den folgenden Jahren hautnah die Blauäugigkeit eines Verteidigungsministers erlebt, der ohne Rücksprache mit seinem Haus den Sparauflagen der Kanzlerin nachgekommen ist. Da fehlten einmal eben acht Milliarden Euro im Topf, weil sozialer Sicherheit Vorrang gegeben wurde. Munitionsbestände wurden seit 2011 nicht mehr aufgefüllt, es fehlten Gefechtsfahrzeuge. Außerdem plant das Verteidigungsministerium seit der 17. Legislaturperiode mit weitaus weniger Kampfmitteln, etwa Schützenpanzern und Artillerie-Systemen, als es Verbände gibt. Die Bundeswehr muss ihr Material verschieben, wenn es irgendwo gebraucht wird. Das hat zu einer strukturellen Schwäche in der Einsatz- und Verteidigungsfähigkeit geführt.

Schneller schlau: Nato

Bleibt also ein klassisch-ironisches „Danke Merkel“?
Es ist ein Fehler, solche Entwicklungen immer personalisieren zu wollen. Auch wir als Parlament haben es nicht geschafft, Treiber der Veränderung zu werden. Zu sehr haben wir uns auf dem Gedanken ausgeruht, Wandel durch Handel schaffen zu können. Außerdem hat auch das Militär selbst eine Mitverantwortung, weil es diese Entwicklung ohne öffentlichen Widerspruch mitgetragen hat.

Die Bundeswehr kann doch nichts für die schlechte Versorgung durch die Regierung?
Nein, aber ich erwarte von einer militärischen Führung, dass sie nicht immer alles akzeptiert und sich durchwurstelt. Sie muss ungefilterte militärische Ratschläge geben, wenn es um die eigenen Fähigkeiten und externe Bedrohungsszenarien geht. Andererseits sollten militärische Einschätzungen dann auch gehört und politisch umgesetzt werden.

Diese Ratschläge gab es nicht?
Zumindest drangen sie nicht zu den Ministerinnen und Ministern durch. Die Generalinspekteure hätten strukturelle und Planungsfehler deutlicher als solche benennen können. Ich sage nicht, dass sie mit Rücktritt hätten drohen müssen. Aber der GI hat eine gewisse Freiheit zu sagen: Wir laufen in eine ganz schwierige Lage für die Bundeswehr hinein. Wenn hier nicht geholfen wird, dann ist sie bald nicht mehr einsatzfähig. So hat Ursula von der Leyen zwar eine Trendwende angekündigt, aber es fehlte das Geld, stattdessen gab es verkürzte Arbeitszeiten und Arbeitsstau. Da fehlte die Reformbereitschaft aus einem Guss, genauso wie der politische Wille bzw. die Mehrheit insgesamt. Der Inspekteur des Heeres war hier kürzlich mutiger.

Wie hätte dieser Guss Ihrer Meinung nach aussehen müssen?
Die Materialverantwortung gehört in die Hand der Inspekteure, die Beschaffungsprozesse hätten viel früher auf den Stand gebracht werden müssen, auf den sie gerade kommen sollen. Wenn die Streitkräfte einen Panzer bestellen, dürfen nicht immer neue Wünsche die Auslieferung verzögern und verteuern. Es hätte auch etwas gegen überalterte Führungskräfte unternommen und verschachtelte Kommandostrukturen aufgebrochen werden müssen. Das ist nicht passiert. Bis heute ist die Bundeswehrführung vor allem durch Koordination von Ämtern und Hauptquartieren gebunden, auch darunter leiden Landes- und Bündnisverteidigung. 

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