Stellen Sie sich kurz diesen Moment vor: Ein Mann stellt sich Ihnen in den Weg, mit grimmigem Gesicht und einer geladenen Kalaschnikow in den Händen. Er baut sich auf und bellt Sie an, gefälligst das Säbelrasseln zu unterlassen – dabei sind das Einzige, das Sie dabeihaben, ein rostiges Taschenmesser und schlotternde Knie.
So ungefähr muss es sich gerade für die Ukrainer anfühlen, sollten sie mitbekommen haben, wie sich Altkanzler Gerhard Schröder in die Russland-Debatte einmischt. Es ist schon eine groteske, ja klägliche Verkennung der Tatsachen, wenn Schröder der Ukraine tatsächlich „Säbelrasseln“ vorwirft – angesichts vieler zehntausender russischer Soldaten an der Grenze, deren Manöver nichts anderes darstellen als politisch-militärische Nötigung.
Nun hat sich Schröder wohl noch nie groß darum gekümmert, was „die“ Deutschen oder „das“ Ausland über ihn und seine Anschlussverwendungen denken. Er hat Wladimir Putin weltbekanntermaßen einen lupenreinen Demokraten genannt; er bezieht viel Geld als Aufsichtsrat eines russischen Konzerns, er stört sich kein bisschen an der Rolle des obersten Russlandverstehers und -anwalts der Bundesrepublik. Weder der Tiergartenmord noch die versuchte Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalnys haben ihn in jüngster Zeit davon abbringen können. Dass er damit sein verdientes Ansehen als Agendakanzler in den Schmutz zieht – seine Sache.
Stünde Schröder nur für sich – und tauchte seine Sicht auf Russland nicht auch Teile der SPD und damit die deutsche Regierungs-Außenpolitik in ein grelles, unangenehmes Licht. Verständnis und Wohlwollen gegenüber Moskau haben besonders unter einigen Sozialdemokraten Tradition, diese Linie zieht sich von der Ostpolitik Willy Brandts über Matthias Platzeck bis zu Manuela Schwesig heute. Und natürlich zu Schröder.
Dass die historische Analogie zu Brandt im Hier und Heute fehl am Platze ist, hat mein Kollege Dieter Schnaas schon scharf herausgearbeitet. Hier soll es um etwas anderes gehen: Wem wirklich an Dialog gelegen ist, an Veränderung im deutsch-russischen oder europäisch-russischen Verhältnis, der sollte die Dinge ohne Verklärung und ohne Illusionen betrachten.
Damit das klar ist: Es ist eine legitime, ehrbare Position, für Ausgleich und Verständigung mit Russland einzutreten. Auch und besonders in diesen Zeiten, als deutsche Regierung mit ihrer unauslöschlichen geschichtlichen Verantwortung zumal. Uns Europäern insgesamt kann es nie egal sein, wohin die Atommacht in unmittelbarer Nachbarschaft driftet. Es ist doch eine welthistorische wie ökonomische Tragödie, dass das Riesenreich unter Putin drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs offenbar keine andere Wahl sieht, als Militär, Rohstoffe und Nationalstolz zu mobilisieren, um seinen Interessen Gehör zu verschaffen.
Die überaus angespannte politische Lage bräuchte dringend einen ehrlichen Makler. Doch Deutschland kann diese Funktion nicht (mehr) übernehmen, selbst wenn es wollte. Nicht mit dieser Abhängigkeit von russischem Gas, dem eigenartigen Ja-Nein-Vielleicht-Eiertanz um Nord Stream 2-Sanktionen. Nicht mit einer Regierungspartei SPD, die in Teilen offenbar mehr Sympathie für Russland als für das transatlantische Verhältnis hegt, die Ukraine und die Nato aufbringt. Nicht mit dem Altkanzler, der Moskau nur durch seinen Filter zu betrachten gedenkt.
In Wahrheit hängt Russlands Zukunft, wenn es denn eine prosperierende, friedliche, aufstrebende, optimistische, weltoffene Zukunft haben will, an der EU. Nicht umgekehrt. Die EU kann in diesem Konflikt nur dann ihre Nebenrolle abstreifen, wenn sie diese Macht erkennt und ihre Interessen nüchtern und bestimmt ausspielt. Anders gesagt: Europa muss anfangen, sich selbst zu definieren statt sich dauernd definieren zu lassen.
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