426 Millionen Wähler in der EU haben aus 15.000 Kandidaten die 751 EU-Abgeordneten ausgesucht, die in der neuen Legislaturperiode in Straßburg und Brüssel über die Geschicke der EU entscheiden. Wie bei jeder Wahl gab es Gewinner und Verlierer, aber diesmal verschieben sich die Machzentren in Straßburg und Brüssel grundsätzlich. Das Europäische Parlament wird unübersichtlicher.
Was bedeutet der Wahlausgang für den Personalpoker?
Gerade weil die Spitzenkandidaten versucht haben, die Europawahl direkt mit der Kür des Kommissionspräsidenten zu verbinden, stellt sich die Personalfrage schon unmittelbar nach dem Urnengang – zumal sich bereits am Dienstag die Staats- und Regierungschefs in Brüssel treffen, um genau dieses Thema zu erörtern. Die Christdemokraten der Europäischen Volkspartei (EVP) sind erneut stärkste Kraft im Europäischen Parlament, müssen aber deutliche Verluste hinnehmen. Spitzenkandidat Manfred Weber fährt gar in seiner Heimat Bayern für die CSU das schlechteste Ergebnis aller Zeiten in einer Europawahl ein. Qualifiziert ihn das für die Kommissionsspitze? Wohl eher nicht.
Sein sozialdemokratischer Kontrahent Frans Timmermans sicherte sich mit der PdA in seiner Heimat Niederlande den ersten Platz. In der EU insgesamt verzeichneten die Sozialdemokraten ebenfalls Verluste. Ein strahlender Verlierer sieht anders aus. Allerdings geht der stärkste Opponent des Spitzenkandidatensystems aus der Wahl ebenfalls geschwächt hervor. Für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist es eine herbe Schlappe, dass seine En Marche von Rechtsaußen Marine Le Pen auf Platz zwei verwiesen wurde. Michel Barnier, der sich Hoffnungen auf die Kommissionsspitze macht, muss erleben, wie seine Partei in Frankreich regelrecht zerlegt wurde. Mit anderen Worten: Das Rennen um die Kommissionspräsidentschaft ist relativ offen.
Wie ist die deutlich höhere Wahlbeteiligung zu interpretieren?
Nicht nur in Deutschland, auch in Italien und Frankreich gaben wesentlich mehr Menschen ihre Stimme ab, als vor fünf Jahren. Die Rhetorik von der Schicksalswahl scheint gewirkt zu haben. Von der höheren Wahlbeteiligung profitierten in Frankreich und Italien aber vor allem die rechten Ränder. Und so war es offenbar nicht nur die Sorge um Europa, die Menschen an die Wahlurne trieb, sondern auch die Angst, die Europakritiker schüren, Europa könne zu mächtig werden.
Welche Machzentren sind im Europäischen Parlament zu erwarten?
Um das sagen zu können, muss erst noch eine andere wirklich spannende Frage beantwortet werden: Wie werden sich die Fraktionen formieren? Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will die Liberalen im Europa-Parlament neu organisieren. Portugals Sozialdemokraten hatten schon angekündigt, dass sie sich dem Bündnis anschließen wollen. Allerdings ist längst nicht klar, ob alle bisher in der Fraktion vertretenen Liberalen Parteien bei Macron bleiben, der etwa Freihandel sehr kritisch sieht. Macron will in Wirklichkeit ein neues Bündnis der Mitte schaffen, was viele echte Liberale abschreckt. Hinzu kommen praktische Hürden: Wer im Europäischen Parlament eine neue Fraktion gründen will, muss mindestens aus sieben verschiedenen Ländern Abgeordnete in seinem Zusammenschluss vorweisen.
Fest steht allerdings, dass die zwei stärksten Kräfte, Christdemokraten und Sozialdemokraten mit Verlusten aus der Wahl gehen. Anders als bisher bilden sie zusammen keine Mehrheit mehr.
Welche Rollen werden Nationalisten und Populisten künftig im Europäischen Parlament spielen?
Wie prognostiziert, ist der rechte Rand im Europäischen Parlament erstarkt. Allerdings kann es den etablierten Parteien, also Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen, noch immer gelingen, Mehrheiten zu bilden. Vermutlich wird das in unterschiedlichen Formationen passieren. Rosa Balfour von der Denkfabrik The German Marshall Fund of the United States, die das Wahlprogramm von 39 nationalistischen Parteien untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass es immer dann besonders schwierig werden könnte, wenn es den Populisten gelingt, die etablierten Parteien zu spalten. In der Vergangenheit ist ihnen das schon beim Thema Handel gelungen.
Wird der deutsche Einfluss sinken?
Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger sieht das so. Er prognostizierte kurz nach Schließung der Wahllokale, dass der deutsche Einfluss in Brüssel sinken werde, weil die beiden größten Fraktionen künftig weniger deutsche Mitglieder aufweisen werden.
Oettingers Logik ist nicht von der Hand zu weisen. Sowohl bei den Christdemokraten als auch bei den Sozialdemokraten haben die Deutschen bisher schon durch ihre schiere Masse eine wichtige Rolle gespielt. Die Deutschen mehren ihren Einfluss bei den Grünen. Die werden aber voraussichtlich nur die fünftstärkste Fraktion im Europäischen Parlament stellen werden. Die tonangebende Kraft werden sie nicht sein.




