WirtschaftsWoche: Herr Röttgen, Bundeskanzler Olaf Scholz hat versucht, die Taurus-Debatte innerhalb der Koalition mit einem Machtwort zu beenden. Was sagt das über den Einfluss des Kanzlers?
Norbert Röttgen: Ein Machtwort muss man sich als Kanzler gut überlegen. Wenn es nicht wirkt, untergräbt es die Autorität. So ist es in diesem Fall bei Kanzler Scholz. Denn die Debatte, die er beenden wollte, geht ja munter weiter, ironischerweise nicht zuletzt durch seine eigenen Beiträge. Das Thema wird auch bleiben, weil sich die Lage an der Front wahrscheinlich verschlechtern und der Druck, die Ukraine mehr zu unterstützen, steigen wird. Der Kanzler muss dann dauernd seine Verweigerung verteidigen. Gleichzeitig ist ein Positionswechsel für ihn schwierig, weil er sich eingegraben hat. Scholz hat sich in eine Sackgasse manövriert.
Wie stichhaltig ist das Argument, dass deutsche Taurus-Marschflugkörper nicht geliefert werden können, ohne Deutschland zur Kriegspartei zu machen?
Es ist überhaupt nicht stichhaltig, völkerrechtlich ist das eine unhaltbare Position. Für Frankreich und Großbritannien hat der Bundeskanzler im Bundestag auf meine Frage hin verneint, dass sie durch die Lieferung von Marschflugkörpern Kriegspartei geworden seien. Für Deutschland sieht er das anders. Auch hier ist der Kanzler widersprüchlich.
Die drei großen EU-Staaten Deutschland. Frankreich und Polen liegen beim Thema Unterstützung der Ukraine weit auseinander - bei Waffenlieferungen und Finanzhilfen. Kann Scholz das „Weimarer Dreieck“ zusammenhalten?
Leider ist Scholz im Moment nicht der, der das Weimarer Dreieck zusammenhält. Er ist vielmehr die Belastung. Die Weigerung, Taurus zu liefern, die unnötige Brüskierung Frankreichs in dieser Frage sowie die Rede vom „Einfrieren des Krieges“ in der SPD verunsichern unsere Partner zunehmend. Tusk und Macron ziehen dagegen an einem Strang. Beide haben verstanden, dass es hier um eine existenzielle Frage für Europa geht und unsere Sicherheit nur gewährleistet werden kann, wenn Putin in der Ukraine scheitert. Trotz der Unstimmigkeiten mit Berlin haben Macron und Tusk richtigerweise bei ihrem Treffen mit Scholz Einigkeit aller drei Partner demonstriert.
Wie tief ist das deutsch-französische Zerwürfnis?
Es ist zunächst ein Zerwürfnis zwischen den beiden führenden Politikern, Kanzler und Präsident, und nicht zwischen unseren Ländern. Aber es betrifft die wichtigste Frage, die es gegenwärtig in Europa zu entscheiden gibt, es geht um Krieg und Frieden und sicherheitspolitische Weichenstellungen für Jahre und Jahrzehnte. Der Streit ist darum sehr ernst. Er verändert auch das Verhältnis. Macron hat sich entschlossen, die europäische Führung wahrzunehmen, die Scholz als Vakuum zurückgelassen hat.
Deutschland weist kein Wachstum auf. Welche wirtschaftspolitische Lücke lässt die Ampel?
Wenn Unternehmen erstmal weg sind und Investitionen entweder nicht mehr oder im Ausland stattfinden, dann ist das kaum rückholbar. Deutschland hat eine Reihe von strukturellen Problemen, die sich in einem äußerst geringen Potenzialwachstum ausdrücken und nicht angegangen werden von der Regierung. Daran wird sich auch bis zum Ende der Legislaturperiode nichts mehr ändern, weil die Regierung politisch zerrüttet ist.
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