Bundeskanzler Olaf Scholz rügt die deutsche Debatte über die Unterstützung der Ukraine und die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. „Die Debatte in Deutschland ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten“, sagte der Bundeskanzler im Gespräch mit WirtschaftsWoche-Chefredakteur Horst von Buttlar und Tagesspiegel-Chefredakteur Christian Tretbar bei der Konferenz Europe 2024 von WirtschaftsWoche, Handelsblatt, Zeit und Tagesspiegel.
Während das Land über die Lieferung deutscher Marschflugkörper vom Typ Taurus debattiere, solle der Fokus darauf gelegt werden, was Deutschland bereits geleistet habe: Die Bundesrepublik sei nach den USA zweitgrößter Unterstützer der Ukraine und habe für dieses Jahr sieben Milliarden Euro im Haushalt vorgesehen, „das gehört hier nach vorne gestellt“. Auch Frankreich und Großbritannien hätten bereits Milliarden für die Unterstützung der Ukraine gezahlt.
Erst vergangene Woche war die Union im Bundestag erneut mit ihrem Antrag auf die Taurus-Lieferung an die Ukraine gescheitert. Eine Mehrheit der Abgeordneten votierte gegen die Initiative von CDU und CSU. Die Ampel-Koalition ist in der Taurus-Debatte zerstritten. Vor allem bei den Koalitionspartnern FDP und Grünen gibt es seit Monaten viele Befürworter einer Lieferung. Der Kanzler hatte dagegen argumentiert, dass ein Einsatz der Marschflugkörper nur mit Beteiligung deutscher Soldaten möglich wäre.
Außerhalb Deutschlands könne niemand diese Debatte nachvollziehen, sagte Scholz jetzt im WirtschaftsWoche-Interview: „Wir in Deutschland werden als diejenigen verstanden, die am meisten tun und zuerst gefährliche Waffen an die Ukraine geliefert haben.“ Dazu gehörten Kampfpanzer, Haubitzen, das Patriot System. „Ich könnte diese Liste noch unendlich verlängern“, so Scholz.
„Wo in der Welt wäre es so, dass das eigene Land der größte Unterstützer ist und so eine Debatte stattfindet?“, fragt der Bundeskanzler auf der Konferenz. „Das ist peinlich für unser Land.“ Außerdem stelle es Deutschlands Führungsrolle infrage. Er wünsche sich eine Debatte, „die Besonnenheit nicht als etwas diskreditiert, das zögerlich ist“. Die Tatsache, dass etwas besonnen und ordentlich abgestimmt wird, sei die Grundlage dafür, dass es die notwendige Unterstützung in der Bevölkerung gebe.
Unterstützung bekommt Scholz von der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas: „Deutschland ist größter Unterstützer der Ukraine“, sagt Kallas ebenfalls auf der Europe2024, „der Fokus muss auf dem liegen, was Deutschland schon gemacht hat“. Dafür sollten andere Länder mehr machen.
Der Blick und die Frage nach der Unterstützung der Ukraine geht für den Bundeskanzler klar Richtung Europa. Die wichtigste Frage, mit der Europa sich gerade beschäftigen müsse, sei danach, wie die europäische Friedensordnung im Hinblick auf Russland bewahrt werden könne. Die EU müsse in die Lage versetzt werden, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Stabilität auch gegenüber Herausforderungen von außen zu sichern. „Von zentraler Bedeutung für den Frieden in Europa bleibt die verlässliche, dauerhafte Unterstützung der Ukraine“.
Scholz sendete auch ein klares Signal an den russischen Präsidenten: „Putin darf nicht damit rechnen, dass wir die Unterstützung für die Ukraine aufgeben“, und auch nicht damit, dass „in den USA ein Präsident gewählt wird, der sofort die Ukraine beerdigt“. Putin müsse erkennen, dass der Westen in der Lage sei, über die Zeit hinweg genügend Unterstützung zu mobilisieren. Dann entstehe eine Situation, in der er einsehe, dass ein fairer Frieden für die Ukraine notwendig sei, „zuallererst, indem er Truppen zurückzieht.“ Die Grundlage von Frieden und Sicherheit in Europa sei, dass man sich nicht vor seinen Nachbarn fürchte, auch wenn sie stärker seien. „Das hat Putin geändert und das ist die Zeitenwende.“
Dafür haben sich Deutschland, Frankreich und Polen im Rahmen des Weimarer Dreiecks kürzlich eine Strategie überlegt. Nach Tagen der Spannungen zwischen Paris und Berlin haben sich die drei Länder einmütig hinter die Ukraine gestellt und dem Land weitere Hilfe für den Abwehrkampf gegen Russland versprochen. Man werde nun gemeinsam auf dem Weltmarkt Waffen für die Ukraine kaufen, kündigte Scholz auf dem Treffen an. In einem ersten Schritt hat Tschechien in 18 Staaten Geld für den Kauf von 800.000 Artilleriegranaten für die Ukraine aus sogenannten Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union gesammelt. Deutschland will sich daran mit etwa 350 Millionen Euro beteiligen.
Doch wieso kommt diese Initiative ausgerechnet von Tschechien, und nicht von Deutschland selbst? Scholz führt an, dass schon lange vorher darüber gesprochen und Verständigung dafür geschaffen wurde, allerdings hätten „die fiskalistisch motivierten Einkaufsprozesse zu der Vorstellung geführt, man könnte Waffen aus dem Regal kaufen“. Stattdessen müssten zunächst die Werke gebaut werden. Das sei in der Vergangenheit versäumt worden. Insgesamt würden mehr Mehrheitsentscheidungen in Europa gebraucht, um einfacher Waffen einkaufen zu können. Hier brauche man mehr „Konfektionsware“, also Waffen ohne Spezifikationen um den Herstellungsprozess. Ein klares Nein erteilte Scholz allerdings der Frage nach der atomaren Aufrüstung Deutschlands: „Was wir haben, ist die Nato und es ist ein großer Gewinn, dass die transatlantische Zusammenarbeit funktioniert.“
Hier finden Sie das vollständige Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Europe 2024