Diese Zahl hat es in sich: Über 13 Milliarden Euro könnte der deutsche Fiskus in diesem Jahr zusätzlich einnehmen, ohne an nur einer einzigen Steuerschraube gedreht zu haben. Der lukrative „windfall profit“, den die Bundesbank ermittelte, resultiert aus einem unrühmlichen Mechanismus des Steuersystems, durch den der Staat der arbeitenden Bevölkerung jedes Jahr aufs Neue heimlich in die Tasche greift. Die so genannte „kalte Progression“ tritt ein, wenn Beschäftigte nach einer Lohnerhöhung wegen des progressiven Steuertarifs mehr Steuern zahlen müssen, sich zugleich aber wegen der Inflation weniger leisten können. Das Grundprinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wird dadurch ad absurdum geführt.
Das weiß auch Finanzminister Christian Lindner – und will handeln. Der FDP-Mann hat angekündigt, in Kürze (und jenseits des Koalitionsvertrags) einen Entwurf für einen „neuen Tarifverlauf bei der Lohn- und Einkommensteuer“ zu präsentieren. Doch für diese Entlastung der Arbeitnehmer in schwierigen Zeiten erhält er in der Koalition erstaunlich wenig Unterstützung. SPD-Chefin Saskia Esken mäkelt, dass Geringverdiener zu wenig profitieren würden.
Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck fremdelt damit, Arbeitsleistung generell steuerlich zu entlasten und will zumindest im Gegenzug den Spitzensteuersatz kräftig erhöhen. Die Frage der kalten Progression, so scheint es, ist in Deutschland auch ein Objekt für die sozialpolitische Manege.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Umso spannender ist es da, was gerade in unserem Nachbarland Österreich passiert. Dort hat die schwarz-grüne Regierung ein ambitioniertes Steuerprogramm beschlossen, das die Entlastung von Normal- und Gutverdienern mit einer sozialen Komponente verbindet. Oder wie es Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) ausdrückt: „Jetzt ist die Zeit, an großen Schrauben zu drehen.“
Die ab 2023 geltende Reform schafft die kalte Progression prinzipiell ab. Die Steuertarife werden sich dann alljährlich analog zur Inflation verändern. Grundlage ist jeweils ein „Teuerungsbericht“ der Wirtschaftsforschungsinstitute Wifo und IHS, der sich auf die Inflationsraten von Juli des laufenden Jahres bis Juni des Vorjahres bezieht. Bis 2026 sollen die Österreicher so vor versteckten Steuererhöhungen im Umgang von 18 Milliarden Euro geschützt werden.
Wifo-Chef Gabriel Felbermayr, der frühere Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, ist von dem Modell überzeugt - und sieht "keine Gründe, warum das nicht auch in Deutschland funktionieren kann." Der Ökonom lobt nicht zuletzt die heilsamen Folgen auf die Tarifpolitik. Die Abschaffung der kalten Progression, durch die Arbeitnehmer von ihren Lohnerhöhungen mehr profitieren, mache es "einfacher, volkswirtschaftlich vertretbare Tarifabschlüsse zu erreichen, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit im Blick behalten".
Das Besondere an dem Projekt ist ein spezielles Steuer-Splitting, das dem österreichischen Staat eine politische Gestaltungsmöglichkeit zugunsten von Geringverdienern sichert. Zwar gibt der österreichische Fiskus den Menschen insgesamt „das Geld 1:1 zurück“ (Brunner). Allerdings bekommt nicht jeder exakt das heraus, was er „zu viel“ eingezahlt hat. Nur zwei Drittel der ermittelten kalten Progression erhalten die Beschäftigten durch eine Verschiebung der Tarifstufen und die Anpassung von Freibeträgen unmittelbar zurück.
Ein Drittel wird hingegen „sozial umverteilt“, wie es heißt. Über die Verwendung entscheidet der Nationalrat. Das Geld – im Jahr 2023 schätzungsweise 600 Millionen Euro - kann etwa in höhere Freibeträge, Transfers oder eine stärkere Förderung von niedrigen Einkommen fließen. Auch Rentner sollen profitieren können.
Und es gibt im „Modell Österreich“ eine weitere Umverteilungskomponente. Die jährliche Inflationsanpassung entfällt in der höchste Steuerstufe und dem Spitzensteuersatz von 55 Prozent. Das bedeutet: Wer ein zu versteuerndes Einkommen von über einer Million Euro hat, muss auch künftig unter der kalten Progression leiden.
Das dürfte sicher auch Saskia Esken und Robert Habeck gefallen.
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