Lernen von Österreich Kampf gegen die kalte Progression mit dem „Modell Österreich“

Die Frage der kalten Progression, so scheint es, ist in Deutschland auch ein Objekt für die sozialpolitische Manege. Wie sich Steuersenkungen sozial abfedern lassen, zeigt ein Blick nach Österreich. Quelle: imago images; Montage: WirtschaftsWoche

Bundesfinanzminister Lindner will die Mittelschicht entlasten – und bekommt Gegenwind von der Sozialstaatsfraktion in der Ampel. Wie sich Steuersenkungen sozial abfedern lassen, zeigt ein Blick über die Grenze ins schwarz-grüne Österreich.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Diese Zahl hat es in sich: Über 13 Milliarden Euro könnte der deutsche Fiskus in diesem Jahr zusätzlich einnehmen, ohne an nur einer einzigen Steuerschraube gedreht zu haben. Der lukrative „windfall profit“, den die Bundesbank ermittelte, resultiert aus einem unrühmlichen Mechanismus des Steuersystems, durch den der Staat der arbeitenden Bevölkerung jedes Jahr aufs Neue heimlich in die Tasche greift. Die so genannte „kalte Progression“ tritt ein, wenn Beschäftigte nach einer Lohnerhöhung wegen des progressiven Steuertarifs mehr Steuern zahlen müssen, sich zugleich aber wegen der Inflation weniger leisten können. Das Grundprinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wird dadurch ad absurdum geführt.

Das weiß auch Finanzminister Christian Lindner – und will handeln. Der FDP-Mann hat angekündigt, in Kürze (und jenseits des Koalitionsvertrags) einen Entwurf für einen „neuen Tarifverlauf bei der Lohn- und Einkommensteuer“ zu präsentieren. Doch für diese Entlastung der Arbeitnehmer in schwierigen Zeiten erhält er in der Koalition erstaunlich wenig Unterstützung. SPD-Chefin Saskia Esken mäkelt, dass Geringverdiener zu wenig profitieren würden.

Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck fremdelt damit, Arbeitsleistung generell steuerlich zu entlasten und will zumindest im Gegenzug den Spitzensteuersatz kräftig erhöhen. Die Frage der kalten Progression, so scheint es, ist in Deutschland auch ein Objekt für die sozialpolitische Manege.

Schneller schlau: Inflation

Umso spannender ist es da, was gerade in unserem Nachbarland Österreich passiert. Dort hat die schwarz-grüne Regierung ein ambitioniertes Steuerprogramm beschlossen, das die Entlastung von Normal- und Gutverdienern mit einer sozialen Komponente verbindet. Oder wie es Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) ausdrückt: „Jetzt ist die Zeit, an großen Schrauben zu drehen.“

Die ab 2023 geltende Reform schafft die kalte Progression prinzipiell ab. Die Steuertarife werden sich dann alljährlich analog zur Inflation verändern. Grundlage ist jeweils ein „Teuerungsbericht“ der Wirtschaftsforschungsinstitute Wifo und IHS, der sich auf die Inflationsraten von Juli des laufenden Jahres bis Juni des Vorjahres bezieht. Bis 2026 sollen die Österreicher so vor versteckten Steuererhöhungen im Umgang von 18 Milliarden Euro geschützt werden. 


Wifo-Chef Gabriel Felbermayr, der frühere Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, ist von dem Modell überzeugt - und sieht "keine Gründe, warum das nicht auch in Deutschland funktionieren kann." Der Ökonom lobt nicht zuletzt die heilsamen Folgen auf die Tarifpolitik. Die Abschaffung der kalten Progression, durch die Arbeitnehmer von ihren Lohnerhöhungen mehr profitieren, mache es "einfacher, volkswirtschaftlich vertretbare Tarifabschlüsse zu erreichen, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit im Blick behalten".

Die Inflation beschert dem Staat zusätzliche Einnahmen. Das hängt mit der Einkommensteuer zusammen. Nun wird eine Entlastung diskutiert. Wer würde profitieren? Ein Faktencheck mit vier Beispielrechnungen.
von Niklas Hoyer

Das Besondere an dem Projekt ist ein spezielles Steuer-Splitting, das dem österreichischen Staat eine politische Gestaltungsmöglichkeit zugunsten von Geringverdienern sichert. Zwar gibt der österreichische Fiskus den Menschen insgesamt „das Geld 1:1 zurück“ (Brunner). Allerdings bekommt nicht jeder exakt das heraus, was er „zu viel“ eingezahlt hat. Nur zwei Drittel der ermittelten kalten Progression erhalten die Beschäftigten durch eine Verschiebung der Tarifstufen und die Anpassung von Freibeträgen unmittelbar zurück.

Ein Drittel wird hingegen „sozial umverteilt“, wie es heißt. Über die Verwendung entscheidet der Nationalrat. Das Geld – im Jahr 2023 schätzungsweise 600 Millionen Euro - kann etwa in höhere Freibeträge, Transfers oder eine stärkere Förderung von niedrigen Einkommen fließen. Auch Rentner sollen profitieren können.

Und es gibt im „Modell Österreich“ eine weitere Umverteilungskomponente. Die jährliche Inflationsanpassung entfällt in der höchste Steuerstufe und dem Spitzensteuersatz von 55 Prozent. Das bedeutet: Wer ein zu versteuerndes Einkommen von über einer Million Euro hat, muss auch künftig unter der kalten Progression leiden.

Baufinanzierung Sollte ich auch günstige Kredite schnell tilgen?

Die Zeiten niedriger Zinsen sind vorbei. Was heißt das für Kreditnehmer, deren Immobiliendarlehen einen niedrigen Zins hat? Sollen sie bei Geldzufluss trotzdem maximal viel tilgen?

Gehalt „In Unternehmen macht sich eine Vollkaskomentalität breit“

In deutschen Unternehmen herrscht ein verqueres Leistungsdenken, sagt Interimsmanager Ulvi Aydin. Er schlägt vor, den Teamgedanken zu hinterfragen – und High Performern mehr zu zahlen als ihren Chefs.

Wohnraum-Mangel? Von wegen Neubaukrise: Hier wird zu viel gebaut

Immer wieder heißt es, es werde zu wenig gebaut. Tatsächlich gilt das jedoch nur für wenige Teile Deutschlands. An den meisten Orten wird sogar zu viel gebaut, wie der Blick in die Regionen zeigt.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Das dürfte sicher auch Saskia Esken und Robert Habeck gefallen.

Lesen Sie auch: Die Inflation drückt die Reallöhne – muss die Politik eingreifen?

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%