Amboss: Lego-Erfinder investiert in Berliner Medizin-App
Arzt Madjid Salimi (l.) und Investmentmanager Benedikt Hochkirchen führen gemeinsam das 12 Jahre alte Start-up Amboss.
Foto: PRDas Berliner Start-up Amboss könnte ein eigenes Krankenhaus eröffnen, so viele Ärzte sind bei dem Software-Unternehmen angestellt. Über 150 Mediziner haben bei Amboss angeheuert, um fachliche Texte zu schreiben – etwa über die Komplikationen einer Sepsis, die Früherkennung von Borreliose oder welches Antidepressivum welchem Patienten hilft.
Amboss ist ein digitales Naschlagewerk für Medizinstudenten und Ärzte. Die Zielgruppe ist klein, umfasst gerade einmal eine Million Menschen. Und dennoch ist das Berliner Tech-Unternehmen eines der vielversprechendsten der deutschen Gründerszene. Die M&A-Beratungsfirma GP Bullhound veröffentlicht jährlich einen Report über den Status Quo des europäischen Start-up-Ökosystems. Eines der Top-Unternehmen, auf die die Autoren zuletzt aufmerksam gemacht haben, ist Amboss. Nach Analyse der M&A-Berater könnte die Lern-App in den nächsten zwei bis drei Jahren zum Unicorn aufsteigen, also eine Firmenbewertung von einer Milliarde Dollar erreichen.
Eine neue Finanzierungsrunde legt bereits den Grundstein. Insgesamt 240 Millionen Euro haben neue und alte Gesellschafter in Amboss investiert – in aktuellen Zeiten eine hohe Summe. Das Geld kommt unter anderem von Kirkbi, dem Family Office der Lego-Familie, dem milliardenschweren Vermögensverwalter M&G Investments und der britischen Private-Equity-Firma Lightrock. Mit den Mitteln seien auch die Altgesellschafter Target Global und Holtzbrinck Digital, das Investmentvehikel des gleichnamigen Verlags, zu dem auch die WirtschaftsWoche gehört, herausgekauft worden, so Co-CEO Benedikt Hochkirchen. Einige Investoren sind seit etwa zehn Jahren beteiligt; sie sind von ihren Fondsinvestoren angehalten, die Anteile jetzt gewinnbringend zu veräußern.
Hochkirchen betont in einer Mitteilung, die neuen Finanziers würden Amboss bis zum Börsengang begleiten. Im Hintergrund hat sich das Start-up bereits in eine SE, eine europäische Aktiengesellschaft umgewandelt – ein erster Schritt. Die Firmenbewertung liegt nach Informationen der Nachrichtenagentur „Bloomberg“ bei über 800 Millionen Euro, knapp vor der Unicorn-Marke. Amboss selbst äußert sich nicht zur Höhe.
In der Start-up-Szene ist der Einhorn-Status ein großer Schritt. Nur 36 deutsche Unternehmen dürfen sich Einhorn nennen. Für die Amboss-Geschäftsführer Benedikt Hochkirchen, Madjid Salimi und dessen Bruder Nawid Salimi erscheint dieses Szenario zwar nicht unwahrscheinlich, es ist aber auch kein Ziel, auf das sie hinarbeiten. „Natürlich braucht ein Unternehmen Geld, aber Firmenbewertungen sind eine Nebensache für uns“, sagt Madjid Salimi.
Ihm kam 2012 die Idee für Amboss, der Beginn seines dritten Karrierewegs. Nach seinem Wirtschaftsinformatik-Studium gründete Salimi zunächst eine Shopping-Plattform – noch während der Dotcom-Blase 2000. Daraus entstand letztlich eine Agentur für Digitalberatungen. Vier Jahre später entschied sich Salimi dann für einen Wechsel und studierte Medizin, arbeitete im Anschluss daran auch als Arzt. Gemeinsam mit seinen Studienkollegen Kenan Hasan und Sievert Weiss gründete er dann Amboss. Gestartet ist die App als begleitende Lern-Software für das Staatsexamen, später wurden die Inhalte für praktizierende Ärzte erweitert.
„Die Art und Weise wie wir Ärzte werden, ist im Prinzip die gleiche wie vor 100 Jahren: Wir lernen in der Uni endlos viel auswendig, und werden darauf geprüft, ob wir gut genug auswendig gelernt haben. Das Wissen ist teilweise veraltet, bevor wir als Ärzte arbeiten“, erklärt der Amboss-Gründer das Konzept seines Start-ups. „Das medizinische Fachwissen steht in Journals und Berichten – großartig für die Wissenschaft, aber für die klinische Praxis ist das wenig brauchbar. Wenn man nur wenige Minuten Zeit pro Patienten hat, kann man keine 200 Seiten durchwälzen.“ Stattdessen klicken sich die Nutzer durch das Programm oder suchen nach bestimmten Begriffen. „Es gibt Dinge, die muss man als Grundlagen erlernen und für andere reichen Nachschlagewerke.“
30 Millionen Euro von Investoren
Laut Salimi sind 95 Prozent aller Medizinstudenten Kunden von Amboss. Haben die Hochschulen keinen Lizenzvertrag mit dem Start-up, zahlen die Studierenden für die Einzelnutzung etwa 100 Euro Gebühren pro Jahr. Den meisten Umsatz generieren Ärzte und Kliniken. Einige Krankenhäuser und Praxen bieten Amboss ähnlich wie Universitäten dem kompletten Personal an und zahlen dafür einen Lizenzbetrag. Müssen Ärzte ihren Zugang selbst finanzieren, liegen die Kosten jährlich zwischen 300 und 400 Euro. Laut Start-up ist jeder vierte Arzt Kunde bei Amboss. Der Jahresumsatz der zwölf Jahre alten Firma liegt eigenen Angaben zufolge im mittleren zweistelligen Millionenbereich.
Das Produkt weiter zu skalieren ist möglich, aber schwierig. Seit 2023 spricht Amboss auch Pflegepersonal an, laut Statistiken 1,8 Millionen potenzielle Neukunden. Außerdem übersetzt ein Team die Inhalte auf Englisch, um vor allem in den USA Marktanteile abzugreifen. Die Gründer legen Wert darauf, dass die Texte von Muttersprachlern mit Medizinstudium geschrieben und nicht von einer künstlichen Intelligenz übersetzt werden. Das erschwert wiederum die Expansion in andere Länder: Für jede neue Sprache müssten Dutzende Fachexperten eingestellt werden.
Amboss hat sich in den ersten Jahren nach der Gründung selbst finanziert, einige Mediziner waren als Business Angels eingestiegen. Ende 2015 erwarb Holtzbrinck Digital Anteile, später investierten Wagniskapitalgeber wie der Berliner Frühphasenfonds Cherry Ventures und Partech aus dem Silicon Valley. Insgesamt erhielt Amboss rund 300 Millionen Euro, die letzte große Finanzierungsrunde war 2021.
„Seit 2023 sind wir Cashflow-positiv, können uns also selber finanzieren und sind nicht mehr auf Investoren zur Finanzierung angewiesen“, sagt Co-CEO Hochkirchen heute. Im Jahr 2022 verbuchte die Tech-Firma laut öffentlich einsehbarem Geschäftsbericht noch ein Minus von mehr als zehn Millionen Euro. Das Geldpolster betrug Ende 2022 noch immer 24 Millionen Euro. Einen Teil dieses letzten Millioneninvestments habe das Start-up erst kürzlich für einen Deal eingesetzt. Vor einem Jahr kauften die Berliner ein konkurrierendes Tool des Verlagshauses „New England Journal of Medicine“ auf. In den USA wurde NEJM Knowledge+ bereits ähnlich wie Amboss eingesetzt.
„Ähnlich wie ein sogenannter Bloomberg-Terminal in der Finanzindustrie ist Amboss im Berufsalltag nicht mehr wegzudenken und verbessert die Qualität der Patientenversorgung nachhaltig“, sagt etwa Filip Dames, mit Cherry Ventures Investor von Amboss und Mitglied im Beirat. „Wir denken, dass Amboss erst am Anfang einer großen Entwicklung steht.“
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst am 26. Juni 2024 bei der WirtschaftsWoche und wurde aufgrund der Finanzierungsrunde aktualisiert.
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