Start-up-Landschaft: Bei KI erlebt Deutschland eine neue Gründerzeit

Helsing? Bis vor kurzem war das Münchener Unternehmen den wenigsten ein Begriff. Es entwickelt künstliche Intelligenz für den Verteidigungssektor – und hielt sich zu Details seiner Technologie entsprechend eher bedeckt.
Doch Mitte Juli schafften es die Gründer auf die Titelseiten der Tagespresse: 450 Millionen Euro soll das Start-up in einer Serie-C-Finanzierungsrunde eingesammelt haben, so eine Pressemitteilung des Unternehmens. Damit ist Helsing laut „Handelsblatt“ nun mit fast fünf Milliarden Euro bewertet. Ein bemerkenswerter Aufstieg für das Unternehmen, das gerade mal gut drei Jahre alt ist.
Doch wenn es um künstliche Intelligenz geht, dann bewegt sich gerade vieles quasi in Lichtgeschwindigkeit. Das zeigt nicht nur das Beispiel Helsing – sondern auch eine neue Studie über die deutsche KI-Start-up-Landschaft, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt. Erstellt wird sie jährlich vom AppliedAI Institute for Europe in München, das sich zum Ziel gesetzt hat, das europäische KI-Ökosystem zu stärken.
Die Zahlen der Studie erzählen von einem Boom: Führt die Auswertung im vergangenen Jahr noch 508 KI-Start-ups in Deutschland auf, so sind es inzwischen 687. Das entspricht einem Anstieg von 35 Prozent binnen eines Jahres. „Der starke Anstieg spricht für den KI-Standort Deutschland“, kommentiert Frauke Goll, Geschäftsführerin des Instituts.
KI-Hochburg Berlin
Als deutsche KI-Hauptstadt entpuppt sich Berlin: 209 KI-Unternehmen haben sich hier angesiedelt, gefolgt von München samt Vororten (139) und Hamburg (65). Unter den Bundesländern führt entsprechend Berlin vor Bayern, Baden-Württemberg, NRW und Hamburg. „85 Prozent der KI-Start-ups kommen aus fünf Bundesländern“, berichtet Goll.
Auffallend ist die breite Palette an Bereichen, in denen die jungen Unternehmen unterwegs seien. „Von der Produktion über Forschung und Entwicklung bis zum Kundenservice – für viele komplexe Anwendungen entwickeln deutsche KI-Start-ups Lösungen“, sagt Philip Hutchinson, Senior AI Strategist beim AppliedAI Institute for Europe.
Technologisches Trendthema ist weltweit weiterhin generative KI, die Texte, Bilder und Videos erzeugen kann – etwa der Sprachbot ChatGPT von OpenAI aus den USA oder die Bildgenerierungssoftware Midjourney. Auf diesem Gebiet nehme auch die Zahl der Neugründungen in Deutschland zu, erläutert Geschäftsführerin Goll. Jedes fünfte deutsche KI-Start-up entwickele generative KI.
Woran es Entwicklern von generativer KI mangelt
Finanziell können die deutschen KI-Gründer hier aber nicht mit den Topunternehmen aus den USA mithalten. 80 der jungen Unternehmen erhielten immerhin mehr als zehn Millionen Dollar Wagniskapital.
Insgesamt flossen im Jahr 2023 der Studie zufolge rund 1,2 Milliarden Euro in deutsche KI-Gründungen. Ein beträchtlicher Teil davon ging allerdings an wenige Branchenstars wie AlephAlpha, den Entwickler von großen Sprachmodellen aus Heidelberg. 500 Millionen Dollar habe das Unternehmen eingesammelt, hieß es bei einer Pressekonferenz im vergangenen November – ein Großteil des Geldes wird jedoch wohl erst in Zukunft in Form von Forschungsfinanzierungen und Aufträgen fließen.
Dennoch bleibt AlephAlpha, an dessen Technologie es zuletzt einige Zweifel gab, eines der bestfinanzierten KI-Start-ups in Deutschland. Rechne man diesen und wenige andere Ausreißer aus der Statistik hinaus, dann verfügten die jungen Spezialisten für generative KI in Deutschland im Schnitt über 750.000 Euro Wagniskapital, sagt AppliedAI-Experte Hutchinson.
Um in der Branche zu bestehen, ist das viel zu wenig. Ein KI-Entwickler erhalte rasch ein Jahresgehalt von 150.000 Euro. „Und allein die Trainingskosten der großen KI-Modelle aus den USA liegen im dreistelligen Millionenbereich. Mit Unternehmen aus den USA kompetitiv zu sein, ist da schwierig.“
Doch es gibt auch Grund zur Zuversicht: „Wichtig ist, dass wir in der ganzen Diskussion um generative KI auch den Blick darauf lenken, dass es sich bei KI um vielfältige Anwendungen und Lösungen handelt“, erklärt Geschäftsführerin Goll. Hier könnten deutsche KI-Gründer Stärke zeigen und konkrete Lösungen für Unternehmen entwickeln. „95 Prozent der deutschen KI-Start-ups sind im B2B-Sektor“, sagt Goll.
Gegenüber dem Vorjahr sei die Zahl der Gründungen sogar deutlich gestiegen, die Lösungen für Unternehmensabläufe und die industrielle Produktion entwickeln. Es gebe einen Wandel hin zu mehr praktischen, industriespezifischen KI-Anwendungen, heißt es bei AppliedAI. „Das produzierende Gewerbe hat viele Daten, die man nutzen kann, um spezifische KI-Modelle zu trainieren“, berichtet Hutchinson.
Das seien Daten, die Unternehmen wie OpenAI aus dem Silicon Valley nicht hätten. Viele Start-ups könnten auch nicht nur eine Produkt-Demo, sondern bereits eine Reihe von konkreten Projekten mit Kunden vorweisen. „Die KI-PS kommen jetzt auf die Straße“, meint Hutchinson.
Extrem hohe Überlebensrate
Ein weiteres positives Signal für die Branche: Nur 41 Start-ups aus dem vergangenen Jahr sind dieses Jahr nicht mehr auf der Liste. Nur vier wurden liquidiert, die übrigen sind ins Ausland abgewandert oder aufgekauft worden. „Die Überlebensrate der deutschen KI-Start-ups ist extrem hoch“, unterstreicht Hutchinson.
Für die Abwanderung ins Ausland gebe es verschiedene Gründe – unter anderem auch die Gesetzgebung. So zog etwa ein Start-up weg, das die Gesichter von Autofahrern scannt und abgleicht, ob sie einen Führerschein besitzen. Für die Gesichtserkennung setzt der AI Act der EU, der im August in Kraft tritt, unter anderem aus Gründen des Datenschutzes strenge Regeln.
Basierend auf der AppliedAI-Studie kürte eine Jury auch die 27 vielversprechendsten KI-Start-ups in Deutschland 2024. Unter den Unternehmen, die es im vergangenen wie in diesem Jahr auf die Liste geschafft haben, ist auch ein Shooting-Star aus München: Helsing.
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