Am Mittwoch waren es noch 99 Schiffe, die vor den Häfen von Los Angeles und Long Beach warten mussten. Am Donnerstag waren es 96 Frachter. Eine Besserung, wenn auch nur eine minimale. Die Situation vor den beiden wichtigsten Häfen der USA ist so angespannt, dass die Behörden mittlerweile tägliche Updates geben.
Die Situation ist ernst, denn es geht um die wichtigste Einkaufssaison in den USA. Thanksgiving, Black Friday und Cyber Monday stehen kurz bevor, danach folgt Weihnachten. Zu keiner anderen Jahreszeit kaufen die Menschen so viel ein, bestellen so viel online.
Doch ein Teil der Geschenke wird es wohl nicht rechtzeitig in die Ladenregale schaffen. Die Produkte hängen auf See fest. Allein vor Los Angeles und Long Beach stehen Schiffe mit Waren im Wert von 24 Milliarden Dollar im Stau, schätzt die Investmentbank Goldman Sachs. Einen Eindruck der Situation geben auch die exklusiven Satellitenbilder von LiveEO.
Bereits seit über einem Jahr kämpft die Schifffahrt weltweit mit Staus und Verstopfung in Häfen rund um die Welt. Und nun spitzt sich die Situation erneut zu. Nie standen so viele Containerschiffe im Stau: Nach Daten des Analysehauses Clarkson liegt 37,3 Prozent der weltweiten Containerflottenkapazität vor Anker oder warten in den Häfen. Vor der Coronapandemie galt es schon als Skandal, wenn dieser Wert mal die 30-Prozent-Marke überschritt. Nicht nur vor der US-Westküste, auch in den Gewässern vor Schanghai oder Shenzhen stauen sich die Containerschiffe, selbst vor Rotterdam geht es nicht so schnell voran wie gewohnt.
Die Situation gleicht einem Geduldsspiel, bei dem es keine Sieger geben kann. Die Arbeiter in den Häfen können kaum ein Schiff leeren, bevor die nächsten schon auf Einlass drängeln. Überhaupt fehlt es an Personal, auch an Fahrern für Lastwagen, um all die Waren irgendwie auch von der Küste ins Land zu bekommen. Das größte Problem ist aber die nicht nachlassen wollende Nachfrage, die das ganze System unter Druck setzt. Die erreicht vor den Feiertagen traditionell Spitzenwerte. Die Fabriken in Asien produzieren deshalb wie verrückt für die Ladenregale in Amerika und Europa. Doch aus dem Westen müssen nicht annähernd so viele Waren zurück nach Osten. Die Folge: In den Häfen stapeln sich leere Container, die den Weg für die neuen, vollen Boxen blockieren. Gleichzeitig fehlen die leeren Kisten in Asien.
„Wenn ein System unter Stress steht, reicht eine kleine Störung, um Probleme im ganzen Netzwerk zu verursachen“, sagt Chris Rogers, Ökonom bei der digitalen Spedition Flexport, die Schiffstransporte rund um den Globus organisiert und überwacht. „Dann führt ein Problem in einem Hafen zu Dominoeffekten rund um die Welt.“ Weil die Schiffe in Los Angeles nicht pünktlich loskommen, sind sie auch in Seattle verspätet. Auch dort stauen sich bereits Schiffe, einige Reedereien lassen den Hafen daher aktuell aus.
Rogers vergleicht die Situation mit dem Chaos, dass in einer Wohnung beim Umzug herrscht: Steht die Wohnung erst mal voller Kartons, wird es schwierig, genau den zu finden, in dem sich die Tassen und Teller verstecken. Vielleicht muss man andere Kartons hochheben, um überhaupt an die benötigte Kiste heranzukommen. Die stehen dann im Weg, wenn man den Teller-Karton bewegen will. „Sobald ein Hafen an seine Kapazitätsgrenzen stößt, sinkt die Effizienz sofort“, sagt Rogers.
Das zeigt sich zum Beispiel in Rotterdam, wie auf den Satellitenbildern zu sehen ist. Der Hafen ist ein wichtiges Anlaufziel sowohl für Containerschiffe, als auch für Tanker, die zum Beispiel Rohöl in die dortigen Raffinerien liefern. Vor der Küste warteten nun zuletzt sowohl Tanker als auch Frachtschiffe darauf, abgefertigt zu werden. Auch Hamburg hatte in diesem Jahr schon einige Probleme, besonders nach der Blockade des Suezkanals. Weil erst gar kein Schiff kam und dann alle auf einmal, hatte der Hafen wochenlang damit zu kämpfen, all die Container abzutransportieren. Teilweise konnte er deshalb tagelang keine Binnenschiffe abfertigen. Doch verglichen zu den USA oder China sei die Situation in Europa noch harmlos, sagt Rogers.
Die chinesischen Häfen kämpfen neben den unpünktlichen Schiffen auch mit schlechten Wetterbedingungen und strengen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Die chinesischen Behörden hatten im vergangenen Jahr immer wieder Häfen abgeriegelt. Weil es Coronafälle gab, schlossen sie im Juli erst den Hafen von Yantian, dann im August noch den Hafen von Ningbo vor Schanghai. Anfang Oktober zieht auch noch ein Taifun über die chinesische Küste hinweg und stoppt den Betrieb in den Häfen für einige Tage.
In den USA stehen die Hafenstaus mittlerweile ganz oben auf der Prioritätenliste von US-Präsident Joe Biden. Erst vor wenigen Tagen hatte der Präsident erklärt, dass die Häfen von Los Angeles und Long Beach, Logistikunternehmen wie FedEx und UPS und auch Händler wie Target oder Walmart nun 24 Stunden an sieben Tagen die Woche arbeiten sollen.
Die Stadt von Long Beach erlaubt nun, dass statt zwei nun auch bis zu vier Container außerhalb des Hafens übereinander gestapelt werden dürfen. Das soll zumindest mehr Platz schaffen. „Auch das ist kein Zauberstab, der alle Probleme löst“, sagt Chris Rogers von Flexport. „Man kann Container nicht einfach hochheben und stapeln, auch dafür braucht man Equipment.“ Und um 24 Stunden am Tag zu arbeiten, brauche man erst mal genügend Personal für eine dritte Schicht.
Die Chancen stehen daher schlecht, dass sich die Staus noch in diesem Jahr auflösen. Eine Hoffnung auf Erholung gibt es im Februar, mit dem Chinese New Year. Zu den Feiertagen stehen in China Fabriken und auch Häfen still, für die Schifffahrt wirkt das normalerweise wie ein Neustart. Aber auch im vergangenen Jahr reichte das nicht aus, um die Schifffahrt wieder in Takt zu bringen. Der Grund: Die hohe Nachfrage erlaubte den Reedern gar keine Pause. „Wenn die Nachfrage sich nicht bis zum Frühjahr 2022 normalisiert, wenn wir keinen signifikanten Rückgang sehen“, sagt Rogers deshalb, „dann kann sich die Situation noch bis in das übernächste Jahr hinziehen.“
Die Rubrik entsteht in Kooperation mit dem Erdobservations-Start-up LiveEO – dieses ist eine Beteiligung der DvH Ventures, einer Schwestergesellschaft der Holding DvH Medien, ihrerseits alleiniger Anteilseigner der Handelsblatt Media Group, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.