
Er steht vor einem riesigen Haufen an Problemen. Stefan Pichler, seit Februar neuer Chef der Fluglinie Air Berlin, muss nur wenige Woche nach Amtsantritt mit dem größten Verlust der Firmengeschichte zurechtkommen. Das geht aus der vorläufigen Jahresbilanz hervor, die die zweitgrößte deutsche Fluggesellschaft am Donnerstagabend veröffentlichte.
Die Zahlen, die noch aus der Ära von Wolfgang Prock-Schauer stammen, waren in ihrer Tendenz erwartet worden, sind aber dennoch düster: Demnach wird das Nettoergebnis von Air Berlin für das vergangene Jahr zwischen minus 362 Millionen und minus 387 Millionen Euro liegen. 2013 hatte das Defizit minus 316 Millionen Euro betragen.
Die Chronik von Air Berlin
Vor 38 Jahren hob der erste Air-Berlin-Flieger ab. Alles begann mit alliierten Sonderrechten zur Landung im geteilten Berlin. Nach der Wende wuchs Air Berlin zur Nummer Zwei am Himmel über Deutschland heran, doch dann folgte eine jahrelange Krise.
1978: Gründung als Chartergesellschaft durch den Ex-Pan-Am-Pilot Kim Lundgren. Erstflug am 28. April 1979 von Berlin-Tegel nach Mallorca. Die Flotte umfasst zwei Maschinen.
1991: Im April kauft der LTU-Manager Joachim Hunold die Mehrheit der Anteile. Es gibt kurz darauf 15 Flüge pro Tag. Air Berlin expandiert und stationiert zunehmend auch Flugzeuge auf Regionalflughäfen.
1998: Mit dem Mallorca Shuttle Einstieg ins Linienfluggeschäft.
Einstieg zu 25 Prozent bei der österreichischen Fluggesellschaft Niki des früheren Rennfahrers Niki Lauda.
Börsengang und Kauf der Fluggesellschaft dba.
Kauf des Ferienfliegers LTU, damit auch Interkontinentalflüge.
Air Berlin rutscht in die roten Zahlen, legt das erste Sparprogramm auf: Strecken fallen weg, Flugzeuge werden ausgemustert. Die Übernahme des Ferienfliegers Condor scheitert.
Air Berlin kündigt für 2012 den Eintritt in das Luftfahrtbündnis Oneworld an.
Hunold wirft das Handtuch, Hartmut Mehdorn übernimmt. Ein weiteres Sparprogramm soll das operative Ergebnis um 200 Millionen Euro verbessern. 18 der 170 Maschinen werden verkauft.
Die arabische Staatsairline Etihad erhöht ihren Anteil von knapp 3 auf 29,2 Prozent und stützt die Airline mit einem 255-Millionen-Dollar-Kredit. Ein neues Sparprogramm beginnt. Der Verkauf des Vielfliegerprogramms an Großaktionär Etihad bringt nur vorübergehend wieder schwarze Zahlen.
Wolfgang Prock-Schauer wird Vorstandschef und verschärft das von Mehdorn im Vorjahr aufgelegte neue Sparprogramm. Jeder zehnte Arbeitsplatz fällt weg, die Flotte schrumpft auf 142 Maschinen.
Im Februar löst Stefan Pichler den glücklosen Prock-Schauer ab. Air Berlin macht 447 Millionen Euro Verlust - so viel wie nie.
Nach einem juristischen Tauziehen kann Air Berlin den größten Teil der wichtigen Gemeinschaftsflüge mit Etihad weiter anbieten. Die Zahlen bessern sich nicht. Gespräche mit Lufthansa über einen Verkauf von Geschäftsteilen beginnen. Mit einem tiefgreifenden Umbau und der Streichung von bis zu 1200 Arbeitsplätzen will Air Berlin seine Krise überwinden.
Air Berlin bekommt einen neuen Chef. Der Lufthansa-Manager und früheren Germanwings-Chef Thomas Winkelmann wird Vorstandschef. Air Berlin führt ihren Flugbetrieb in zwei getrennten Geschäftsfeldern weiter: Langstreckenflüge und Städteverbindungen in Europa werden zusammengefasst, Urlaubsflüge unter der Marke Niki geführt. Lufthansa erklärt sich bereit, Air Berlin zu übernehmen, wenn der Großaktionär Etihad zuvor die Schulden übernähme.
Air Berlin meldet Insolvenz an. Zuvor hatte Etihad seine finanzielle Unterstützung eingestellt. Ein 150-Millionen-Euro-Kredit des Bundes soll den Flugbetrieb zunächst sichern.
Fast 40 Jahre nach dem Start der ersten Air-Berlin-Maschine in Berlin-Tegel landet am 27. Oktober 2017 um 23.45 Uhr der letzte Air-Berlin-Flieger dort. Die Zukunft der Angestellten und vieler Unternehmensteile ist zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss.
Der Umsatz des Konzerns lag 2014 fast unverändert zum Vorjahr bei 4,16 Milliarden Euro (2013: 4,15 Mrd. Euro). Als vorläufiges operatives Ergebnis (Ebit) nannte Air Berlin minus 279 bis minus 304 Millionen Euro im Vergleich zu minus 232 Millionen Euro im Jahr zuvor.
Die Probleme von Air Berlin
Die Höhe der Aufwendungen für den Umbau des Unternehmens sei „derzeit noch nicht abschließend ermittelt“, hieß es zur Begründung für die genannte Spanne. Der endgültige Konzern- und Jahresabschluss werde im April veröffentlicht. Ursprünglich war dafür der kommende Montag vorgesehen.
Klar ist jedoch: Der Schuldenberg wächst und wächst - auf 810 Millionen Euro Ende 2014.
Dass die Verluste von Air Berlin nicht höher ausfallen und, dass die Linie überhaupt noch fliegen kann, liegt auch an den hohen Beihilfen, die die Linie von seinem Hauptaktionär Etihad erhält. Der Preis dafür ist hoch, Air Berlin ist faktisch von der Gedulf und den Interessen der Fluglinie aus Abu Dhabi abhängig.
Denn trotz harter Sparprogramme, der Verkleinerung der Flotte, einem Stellenabbau und einem reduzierten Flugangebot ist der Turn-Around über Jahre nicht gelungen.
Die Probleme, die sich durch einen übereilten Expansionskurs aufgetürmt haben, waren einfach zu groß: Nicht nur, dass sich viele neue Verbindungen als unprofitabel herausstellten. Um schnell zu wachsen hatte sich die Fluglinie etwa Flugzeuge für zu viel Geld gemietet. Um später an Finanzmittel zu kommen, verkaufte die Airline eigene Flugzeuge - und leaste zu horrenden Kosten zurück. Diese Fehler der Vergangenheit lasten bis heute schwer auf dem Unternehmen.
Der Rettungsplan für Air Berlin
Um endlich die Wende zu schafffen, ist Stefan Pichler mit viel Ehrgeiz in seinen Job gestartet: Anfang März, gerade einmal einen Monat nach Amtsantritt, stellte der Vorstandschef seine Vision für eine gesunde Air Berlin vor. Und einen Stramme Zeitplan: 2016 soll die angeschlagene Fluggesellschaft wieder schwarze Zahlen schreiben. Vereinfacht ausgedrückt, will der 57-Jährige mit neuen Leuten, einer neuen Arbeitsweise aber der im Kern alten Strategie aus den roten Zahlen fliegen.
Weltweit rastlos: Der Lebenslauf des Stefan Pichler
Stefan Pichler wird in München geboren. Seine Mutter ist Lehrerin, sein Vater arbeitet beim Patentamt.
Pichler erweist sich als talentierter Läufer. Als Schüler läuft er Mittelstrecke, dann wechselt er zum Hindernislauf und schließlich auf die Langstrecke.
Nach dem Abitur startet Pichler eine Karriere als Profi-Langläufer, die ihn auch dank einer extrem schnellen Zeit beim Marathonlauf (2 Stunden, zwölf Minuten) in die Nationalmannschaft bringt. Über die 25-Kilometer-Distanz gehört Pichler zeitweise zu den fünf Besten der Welt.
Pichler qualifiziert sich für die Olympischen Spiele in Moskau. Doch seine Teilnahme scheitert am Boykott des Westens nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan.
Pichler beendet seine Laufkarriere und sucht eine Stelle. Beim Sportartikelkonzern Adidas schnappt ihm der heutige Konzernchef Herbert Hainer einen Job weg. Pichler geht stattdessen als Leiter des Bereichs Sport Promotions zum Konkurrenten Nike.
Pichler kündigt seinen Job und studiert Jura und Wirtschaftswissenschaften in Augsburg. Er macht 1989 einen Abschluss als Diplom-Ökonom.
Nach einem Trainee-Programm bei der Lufthansa geht er für die Fluglinie nach Paris. Er beginnt als Marketingleiter für Frankreich und übernimmt 1992 auch den Job als Verkaufsleiter. 1993 wird Pichler Landeschef für Frankreich und sorgt für deutliches Wachstum.
Pichler wechselt in die Lufthansazentrale nach Frankfurt, zunächst als Leiter Globale Vertriebspolitik und ab 1996 Vertriebschef Deutschland. 1997 wird er Verkaufsvorstand des Fluggeschäfts. Unter dem Motto „Wir matchen jeden Preis“ attackiert er die ersten Billigflieger wie Ryanair. Um das zu finanzieren, drückt er die Vertriebskosten und macht sich bei den damals zentralen Reisebüros unbeliebt, weil er die Verkaufsprovisionen von den üblichen neun Prozent vom Umsatz auf fünf Prozent kürzt. Auch intern ist Pichler umstritten, weil er mit seiner aus Sicht von Weggefährten schroffen und schwer zufriedenzustellenden Art seine Mitarbeiter demotiviert.
Lufthansa-Konzernchef Jürgen Weber ist von Pichlers Erfolgen angetan und macht ihn zum Chef des Reisekonzerns C&N in Oberursel. Um den Verbund aus dem Lufthansa-Urlaubsflieger Condor und dem Veranstalter Neckermann (Karstadt-Konzern) zu vereinen, schleift Pichler interne Strukturen. Sein Ziel ist es aus C&N zu einem weltweit führenden Reisekonzern zu machen, der von Billigreisen bis zu Luxusurlauben alles anbietet. Dazu sollen die Erträge steigen, weil eine durchgehende Kette aus Vertrieb, Flügen, Hotels und Vor-Ort-Betreuung alle Teile besser auslasten soll.
Um die Kette noch besser auszulasten, will Pichler das Geschäft internationalisieren. Doch seinen geplanten Zukauf, die britische Thomson Travel Group, schnappt ihm Erzrivale Preussag für die seine Reisetochter Tui weg. Denn Preussag-Chef Michael Frenzel kann schneller agieren als Pichler, der immer erst seine Anteilseigner Lufthansa und Karstadt fragen muss. Stattdessen kauft Pichler die britische Thomas Cook, die Tui aus Wettbewerbsgründen abstoßen muss. Kurz zuvor hat Pichler in Frankreich Havas Voyages übernommen.
Nach dem Ende des New-Economy-Booms, durch die wachsende Zahl von Online-Schnäppchen und später der Reiseangst infolge der Terroranschläge des 11. September 2001 bricht die Nachfrage nach Veranstalterreisen ein. Statt den Konzern zusammenzuführen, muss Pichler ein Sparprogramm starten und will die Kosten um gut zehn Prozent drücken. Trotzdem schreibt Thomas Cook im Geschäftsjahr 2001/2002 erstmals Verlust.
Pichler wird entlassen. Trotz Entlassungen und dem Verkauf von Flugzeugen verdoppelt sich der Verlust im Geschäftsjahr 2002/2003 auf gut 250 Millionen. Das kostete ihn den Rückhalt seiner Gesellschafter. In der Belegschaft hatte er bereits zuvor verloren, sowohl durch seine im Arbeitsalltag schroffe Art als auch durch die Aufgabe von Traditionsmarken wie Condor.
Pichler verlässt enttäuscht Deutschland. Weil ihm sein Arbeitsvertrag für mindestens ein halbes Jahr andere Jobs in der Reisebranche verbietet, zieht er auf die Seychellen und macht eine Ausbildung zum Tauchlehrer. Durch Vermittlung von Freunden kommt er in Kontakt mit dem britischen Multiunternehmer Richard Branson, der ihn als Vizechef zu seiner australischen Billiglinie Virgin Blue (heute: Virgin Australia) holt.
Pichler bringt die Linie auf Kurs und hebt die Servicequalität. Später startet er den Einstieg ins Langstreckengeschäft. Die entspannte australische Art und der Einfluss Bransons lassen auch Pichler etwas lockerer und entspannter werden, berichten Weggefährten.
Nachdem Virgin Blue rekordverdächtige Umsatzrenditen von gut 20 Prozent erreicht hat und Pichler nicht wie erwartet Konzernchef wird, wechselt nach Kuwait zum Billigflieger Jazeera Airways. Der braucht ein neues Geschäftsmodell, weil ihm die Vereinigten Arabischen Emirate sein Drehkreuz in Dubai untersagen, um Platz für ihren eigenen Billigflieger Flydubai und ihre Premiumlinie Emirates zu schaffen.
Pichler verkleinert Jazeera Airways stark und macht sie zur profitabelsten Linie der Region. Weil er mit seiner Frau nach Dubai in ein Haus auf der Palm Jumeira genannte erste Gruppe künstlicher Inseln zieht, hat er engen Kontakt in die lokale Wirtschaft und zählt auch das Emirats-Oberhaupt Mohammed bin Rashid Al Maktoum zu seinen Freunden.
Schon 2011 und 2012 verhandelt Pichler mit Air Berlin über den Chefposten. Etihad-Chef James Hogan würde ihn gerne engagieren. Doch dem Vernehmen nach sind die anderen Verwaltungsratsmitglieder dagegen. Sie und vor allem Oberaufseher Hans-Joachim Körber und Alt-Chef Hunold bevorzugen den damaligen Vize Wolfgang Prock-Schauer. Angeblich, weil sie unter Pichler unnötig radikale Umbauten befürchten.
Nach dem Erfolg bei Jazeera wechselt Pichler auf den Chefposten der kleinen staatlichen Fiji Airways mit Sitz in Nadi, am größten Flughafen der Inselgruppe. Das reiche Angebot an Wassersport und das ruhige Leben bei der Fluglinie mit – laut Internetseite – mehr als doppelt so viel Vorstandsmitgliedern wie Flugzeuge locken ihn. Dazu waren er und seine australische Frau Leonie angeblich das heiße trockene Klima ein wenig leid.
Pichler beginnt Fiji Airways umzubauen und schwört allen Plänen einer Rückkehr nach Deutschland ab. „Ich werde mit Sicherheit die nächsten Jahre die Airline hier managen und dann werde ich es auslaufen lassen. Ich meine, dann war ich mehr als 20 Jahre CEO und irgendwann muss genug sein“ erklärt er in einem Interview.
Wohl auch weil Pichler mehr Zeit hat, kommt er nun öfter nach Deutschland und ist auf Veranstaltungen seines alten Arbeitgebers Lufthansa zu sehen. Als bei Air Berlin die Zahlen nicht besser werden, spricht ihn angeblich Etihad-Chef Hogan im Frühsommer erneut auf den Chefposten an. Im Sommer spitzt sich die Lage bei Air Berlin zu. Die EU untersucht ob Etihad einen dominierenden Einfluss hat, was Air Berlin den Status als europäische Fluglinie und das Gros der Auslandsstrecken kosten könnte. gleichzeitig will Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt Air Berlin das Recht für Gemeinschaftsflüge mit Etihad entziehen.
Daum ändern immer mehr Mitglieder des Air-Berlin-Verwaltungsrats ihre Meinung und schließlich stimmen im Oktober laut Insidern auch die lange widerstrebenden Mitglieder Körber und Hunold Pichlers Berufung zu. Pichler nimmt die Wahl gerne an. Gegenüber Freuden deutet er an, dass ihm auf Fiji trotz aller Naturfreuden doch das kulturelle Angebot in Europa und besonders in Berlin fehlt. „Aber das er nun auch in seiner Heimat zeigen seine Qualität als Sanierer zeigen kann und dabei sowohl den Eindruck seines Scheiterns bei Thomas Cook als auch seinen Ruf als Ekel wettmacht, hat ihn sicher auch nicht gestört“, so ein Weggefährte
Am 1. Februar soll Pichler Air-Berlin-Chef werden.
In drei Phasen sollen Management und Vertrieb umgebaut werden. Pichler will das Flugangebot stärker auf ertragreiche Strecken ausrichten und die Drehkreuze wie Düsseldorf und Berlin ausbauen. Neue Billigtarif und mehr Angebote für Geschäftsreisende sollen zusätzliche Passagiere und mehr Umsatz bringen. Mit Air Berlin flogen im vergangenen Jahr 31,7 Millionen Passagiere, 0,6 Prozent mehr als 2013. Die Auslastung der Flugzeuge und der Ertrag pro Sitzplatz sind 2014 zurückgangen.
Seine Pläne vermittelt Pichler mit großer Überzeugung. Er zeigt sich überzeugt, so die dringend benötigte Wende schaffen zu können: Man erwarte eine "deutliche Ergebnisverbesserung", heißt es aus dem Konzern. Diese solle „die Grundlage für eine angestrebte Rückkehr zur Profitabilität in 2016 schaffen“. Pichler verwies auf eine günstige Entwicklung bereits im ersten Quartal. Air Berlin werde „die negative Performancespirale vergangener Jahre“ 2015 durchbrechen.