„Juicer“ E-Scooter: Wie Lime-Mitarbeiter illegal Strom tanken

E-Scooter: Lime hat Ärger mit seinen „Juicern“ Quelle: imago images

Der Boom der E-Scooter kennt auch dunkle Seiten. Eine interne WhatsApp-Gruppe des Verleihers Lime zeigt, wie das Unternehmen mit Diebstahl und „kreativem“ Stromtanken durch seine freien Mitarbeiter zu kämpfen hat.

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Was die App anzeigt, ist Sven Carsten (Name geändert) Befehl. Die App des E-Roller-Anbieters Lime sagt Carsten, an welchen Ecken Berlins die E-Scooter stehen, die der freie Mitarbeiter mit seinem Kastenwagen einsammeln soll. Vor wenigen Wochen fiel die App des US-Unternehmens Lime aus. Carsten staunte nicht schlecht darüber, was er dann zu lesen bekam.

Denn um den Betrieb trotz des Ausfalls der App aufrecht zu erhalten, eröffnete Lime kurzfristig eine Gruppe im Kurznachrichtendienst WhatsApp. Einige „Juicer“, wie Lime seine freiberuflichen Roller-Einsammler nennt, nutzten das neue Forum allerdings für sehr spezielle Zwecke: Manche von ihnen boten dort gestohlene E-Scooter zum Kauf an, wieder andere luden Fotos hoch, die halblegale Möglichkeiten zum Stromladen zeigten.

Was der Chatverlauf, der der WirtschaftsWoche vorliegt, in seinem ganzen Umfang zeigt: Die Kontrolle über seine freien Mitarbeiter, die pro eingesammelten Scooter bezahlt werden, dürfte Lime zumindest in manchen Teilen entglitten sein.

2019 wird in Deutschland als das Jahr des E-Scooter-Booms in Erinnerung bleiben. Seit Verkehrsminister Andreas Scheuer die flinken Elektro-Flitzer im Sommer zugelassen hat, haben sich die Roller im urbanen Stadtbild quasi viral verteilt. Die Roller der großen Verleiher Lime, Tier, Circ und Voi sind besonders in Innenstadtlagen an so gut wie allen Bürgersteigen zu sehen.

Was als trendiges und umweltschonendes Verkehrsmittel geplant war, sorgt mittlerweile aber für mächtig Ärger. Die eigenwillige Auslegung der Straßenverkehrsordnung einiger Roller-Fahrer hat das Gefährt schon wenige Wochen nach Einführung zum Sinnbild von Anarchie im Verkehr gestempelt. Für wenig Begeisterung sorgten auch die auf Bürgersteigen und Hinterhöfen kreuz und quer abgestellten Roller. Das Versprechen auf nachhaltige Mobilität konnte bislang kaum erfüllt werden: Der enorme Verschleiß vieler Roller und der Transport via Diesel-Transporter zum Aufladen lassen vom Öko-Image nicht viel übrig.

In der Werbewelt der Anbieter klingt das freilich anders. Eigenen Angaben zufolge macht Lime ein halbes Jahr nach seinem Start in Deutschland in seinem Kerngeschäft keine Verluste mehr und der Verleiher wirbt damit, seit dem Start am 18. Juni 6,5 Millionen E-Scooter-Fahrten ermöglicht zu haben. Mit einer „Flottengröße von über 25.000 Fahrzeugen“ sieht Lime sich als „größter Betreiber von Elektromobilität in Deutschland“. „Noch nie hatte ein anderes Mobilitätsunternehmen so viele Nutzer in so kurzer Zeit“, wirbt Lime.

Möglicherweise hatten aber auch noch nicht viele Mobilitätsunternehmen in so kurzer Zeit so viele Probleme mit ihren freien Mitarbeitern wie Lime. So zeigt die geschlossene WhatsApp-Gruppe des Unternehmens, mit welchen Auswüchsen das Unternehmen offenbar konfrontiert ist und mit welchen Tricks einige „Juicer“ ihr Gehalt aufbessern.

„Hallo liebe Juicer, liebe Partner, aktuell haben wir ein Problem mit dem gesamten System, so dass weder Juicer noch Fahrer die App nutzen können.“ So eröffnete ein Lime-Mitarbeiter vor wenigen Wochen die WhatsApp-Gruppe für die Roller-Einsammler. „Sobald das System wieder funktioniert, melden wir uns wieder bei euch“, heißt es weiter von Lime, gefolgt von der Aufforderung, „Screenshots“ der App zu schicken, sollte den Einsammlern durch den Ausfall ein Schaden entstanden sein.

„Ah, eine Gruppe bei WhatsApp, das ist gut. Nur welchen [sic!] Zweck soll sie dienen?“, postete ein Nutzer. Andere „Juicer“ fragten hingegen nicht lange nach Sinn und Zweck, sondern nutzten das Forum kurzerhand für ihre höchsteigenen Geschäfte: „VERKAUFE LIME ROLLER 20 EURO PRO STÜCK“, schrieb einer der Nutzer. Weitere Angebote zu Rollern folgten im Minutentakt. Der Hinweis eines Nutzers, dass die Roller „nicht verfolgbar“ seien, lässt darauf schließen, dass das GPS-Ortungssystem offenbar ausgebaut worden war. In wie vielen Fällen die Scooter tatsächlich verkauft wurden und in wie vielen Rollern die GPS-Ortung ausgebaut wurde, lässt sich nicht feststellen.

Lime teilt mit, dass „Diebstahl kein großes Thema“ für das Unternehmen sei. „In den seltenen Fällen, dass vereinzelte E-Scooter verschwinden bzw. sich das GPS-Signal verliert, bringen wir dies zur Anzeige, basierend auf Angaben wie dem letzten Standort des E-Scooters“, heißt es von Lime. Zudem arbeite das Unternehmen „uneingeschränkt mit der Polizei zusammen, um sicherzustellen, dass rechtswidriges Verhalten identifiziert, gemeldet und dokumentiert wird“.

Der Leiter der WhatsApp-Gruppe entfernte jene „Juicer“, die illegale Inhalte posteten, rasch aus der Gruppe. Zudem versuchte er, den Zweck des Chats zu verdeutlichen: „Dieser Chat ist nicht dafür gedacht. Leute. Dieser Chat ist nicht dafür gedacht.“ Doch die Büchse der Pandora ließ sich nicht mehr schließen.

Um den Betrieb trotz des Ausfalls der App aufrecht zu erhalten, eröffnete Lime kurzfristig eine Gruppe im Kurznachrichtendienst WhatsApp, wo kurzerhand Mitarbeiter außergewöhnliche Methoden zum Besten gaben. Quelle: Privat

So posteten Nutzer Fotos, die zeigten, wie viele Dutzend Roller sie gleichzeitig aufluden. Ein besonderer „Kniff“ beim Aufladen der Roller war dabei einem der „Juicer“ gelungen: „Ich lade Roller an Autoladestationen durch einen selbstgebauten Adapter, somit fällt lästigen [sic!] Schleppen durch die ganze Stadt weg. Falls einer Interesse an diesem Adapter hat einfach melden“, postete er in der Whatsapp-Gruppe. Als Beweis folgten mehrere Fotos und ein Video. Darauf zu sehen war eine Ladestation für E-Autos des Energiekonzerns Innogy, an der gut zwei Dutzend Roller Strom tankten. Auch in diesem Fall lässt sich nicht eruieren, wie viele „Juicer“ auf solche selbst gebauten „Adapter“ zurückgreifen.

Limes Problem mit den Schnellladern

Lime betont, dass „dieses Vorgehen“ dem Unternehmen „nicht bekannt“ sei und nicht den Vorgaben zum Laden der Batterien der E-Scooter entspreche. „Juicer, die E-Autoladesäulen zum Laden von Scootern zweckentfremden, haben mit den entsprechenden Konsequenzen zu rechnen“, heißt es von Lime.

Die Anbieter von E-Ladesäulen wie Innogy und E.On warnen unisono vor der Zweckentfremdung von E-Auto-Ladesäulen für Scooter. „Wir als E.On können von selbst gebastelten Adaptern nur abraten, weil von ihnen eine Gefahr ausgehen kann. Ihre Nutzung an E.On-Ladestationen ist deshalb nicht erlaubt“, heißt es von E.On. Fälle solchen Missbrauchs seiner Ladestationen waren E.On laut eigener Aussage nicht bekannt. Da der Adapter der Technik vortäusche, dass ein E-Auto geladen würde, könne allerdings „eine Zweckentfremdung von E.On nicht automatisch festgestellt werden“.

Der Hersteller des Adapters, der auch die Fotos in der WhatsApp-Gruppe gepostet hat, verwehrt sich hingegen gegen den Vorwurf, illegal vorgegangen zu sein. „Die Rechnung an den Ladesäulen haben wir selbstverständlich beglichen“, sagte er der WirtschaftsWoche. Dass der Strom für die E-Scooter bezahlt worden ist, bestätigten auch die Anbieter der E-Ladesäulen. Zudem glaubt der Hersteller des Adapters nicht, dass sein Konstrukt den Nutzungsbedingungen der E-Ladesäulen-Anbieter widerspreche: „Ich habe die AGBs der Anbieter gelesen und nach diesen darf man an den Zapfsäulen Fahrzeuge der Mikromobilität laden.“ Der Hersteller der Adapter versichert zudem, dass von seinen Adaptern keine Gefahr ausgehe: „Wir haben diese Adapter in wochenlanger Arbeit konzipiert und gebaut.“

Doch auch das Laden mit handelsüblichen Schnellladern, die Lime seinen „Juicern“ in vielen Fällen gratis zur Verfügung stellt, ist offenbar nicht ganz unproblematisch. Auch Sven Carsten hat von Lime mehr als 30 Schnellladekabel gratis bekommen. Mehr als ein Dutzend Scooter habe er damit an die Steckdosen seiner Gewerbeimmobilie inmitten von Berlin angesteckt. „Plötzlich sind alle Lichter bei mir ausgefallen, weil die Belastung wohl einfach zu groß war“, sagt Carsten. Bis heute würden Teile der Stromversorgung seiner Immobilie deshalb nicht mehr funktionieren. Lime wirft er vor, ihn nicht darüber aufgeklärt zu haben, dass man nur eine bestimmte Zahl an Aufladegeräten an das Haushaltsnetz anstecken darf.

Lime betont, dass „jeder Juicer im Zuge des Onboarding von unseren Mitarbeitern ausdrücklich darauf hingewiesen wird, wie die Schnellladekabel korrekt zu benutzen sind“. „Natürlich beinhaltet das auch die Info, dass man nicht mehrere Schnellladekabeln gleichzeitig an eine normale Haushaltssteckdose anschließen kann“, heißt es von Lime. „Ebenso wurden alle Juicer ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie unter keinen Umständen mehrere Mehrfachsteckdosen aneinander in Reihenschaltung anschließen sollen – da keine Sicherung darauf ausgelegt ist.“ Zudem habe Lime „allen Juicern sehr ans Herz gelegt, ihr Elektroinstallation von einem Elektriker prüfen zu lassen“. Dafür habe Lime auch einen Hauselektriker zur Verfügung gestellt.

Wer die Ratschläge des Unternehmens zum Stromaufladen nicht beachtet, muss laut Lime mit nicht allzu weitreichenden Folgen rechnen: „Werden entgegen unsere Instruktionen mehrere Schnellladekabeln gleichzeitig an eine normale Haushaltssteckdose angeschlossen, fliegt die Sicherung raus und der Ladevorgang wird unterbrochen.“ Drastischer sieht das hingegen der Zentralverband der Deutschen Elektro- und Informationstechnischen Handwerke (ZVEH): „Während sich eine Überlastung im günstigsten Fall durch Auslösen des Leistungsschutzschalters (Sicherung) zeigt, kann sie – im schlimmsten Fall – zu einem Brand führen.“

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