Musikindustrie „Was passiert, wenn ich meine Firma aufteile?“

Ewige Werte: Die Musikkataloge von klassischen Rockbands wie den Rolling Stones werden dank immer älterer Streamingabonnenten immer wertvoller. Quelle: REUTERS

Dank Spotify und Co. scheint die Musikbranche ihre Krise hinter sich zu haben und steuert auf Umsatzrekorde zu. Doch der Erfolg hat Folgen und Hartwig Masuch, Chef von BMG, sieht gewaltige Umwälzungen voraus.

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WirtschaftsWoche: Herr Masuch, die Welt leidet unter der Corona-Pandemie – und die Musikbranche blüht auf. Auch Sie konnten bei BMG vor allem dank Ihrer vielen Archive alter Hits im ersten Halbjahr den Umsatz steigern. Hören Musikfans in der Krise am liebsten bewährtes, Stücke aus besseren Zeiten?
Hartwig Masuch: Ja, das ist schon so, der Katalog ist in der ganzen Branche das Wachstumsthema Nummer 1. Das galt zwar auch schon vor der Pandemie. Sie hat allerdings einen entscheidenden Trend noch einmal beschleunigt.

Welchen?
Die neuen Abonnentinnen und Abonnenten der Streamingdienste werden immer älter, die Subscriber der nächsten Generation sind deutlich über 25 Jahre alt. Die ersten, die damals Spotify abonniert haben, waren die 15- bis 25-Jährigen – die 15-Jährigen mit dem Freemium-Programm und die 25-Jährigen dann zunehmend mit bezahlten Abos. Jetzt wird das Publikum immer älter. Und da passiert etwas, was wir alle in der Industrie lange Zeit übersehen haben – den Gap zwischen dem Musikkonsum und der Monetarisierung der Musik. Diese Lücke schließt sich.

Wodurch?
Wenn ein 40-Jähriger vor ein paar Jahren seine Musik hören wollte, ist er an seinen Schrank gegangen, hat „Sticky Fingers“ von den Rolling Stones rausgeholt und aufgelegt. Für die Platte hatte er schon einmal bezahlt, und danach hat niemand mehr gesehen, wie oft er sie sich anhörte. Das hat sich durch Streaming komplett verändert – jetzt wird dieser bislang nicht monetarisierbare Konsum doch noch zu Geld gemacht. Und der war tatsächlich schon immer vor allem kataloglastig. Die logische Folge: Je „älter“ die Monetarisierungsbasis ist, desto höher wird die Relevanz von Katalog. 

Hartwig Masuch Quelle: Presse

Liegt die Verschiebung Richtung Katalog nicht auch daran, dass viele Labels wegen der Corona-Krise Neuerscheinungen zurückgehalten haben, weil keine Konzerte stattfinden und damit Werbung flachfällt?
Physische Neuerscheinungen wurden zum Teil verschoben, das stimmt. Aber das war nicht so entscheidend, sondern passt in den vorherrschenden Trend – es wird in Zukunft insgesamt weniger aggressiv vermarktete Neuerscheinungen geben.

Warum?
Weil in der Industrie alle gemerkt haben, dass es zunehmend schwieriger wird, Wirkung zu erzielen. Das ist aber per se nichts Schlimmes, es ist schlicht eine Realität. Der Konsum war schon die vergangenen 50 Jahre über anders proportioniert, nur die Monetarisierung ändert sich jetzt. 

Wenn das Geschäft mit den Archiven für BMG und die anderen großen Musikkonzerne so einträglich ist – welche Chancen haben da noch junge Musiker, ihr Publikum zu finden?
Das sehe ich nicht so kritisch. Denn grundsätzlich spielt die Digitalisierung ja auch neuen Künstlerinnen und Künstlern in die Hände, weil sie nicht mehr durch die verschiedenen Filter der existierenden Industrie gehen müssen. Sie können ihre Kanäle direkt nutzen. Es wird deshalb auch weiterhin viel neue Musik geben. Aber dadurch, dass der Vermarktungsdruck und die Hoheit über die Vertriebswege demokratischer oder ausbalancierter werden, gibt es nicht mehr so einen schnellen Aha-Effekt. Dahinter steht aber vor allem die Frage, wieviel neue Musik der Markt auch in der Vergangenheit wirklich haben wollte und in welchem Verhältnis diese neue Musik zum Gesamtkonsum stand. Vor fünf oder zehn Jahren hat man das noch nicht wirklich messen können. Jetzt ist das möglich, und das macht den Anteil der Katalognutzung für die Industrie, aber auch für Künstlerinnen und Künstler selbst endlich sichtbar. 

Wie hoch ist der Anteil denn?
Das ist natürlich von Label zu Label unterschiedlich. Aber wenn wir uns die aggregierten Daten der etablierte Internetprovider anschauen, dann geht die Katalognutzung in Richtung 70 oder gar 75 Prozent vom Gesamtkonsum. Vor zehn Jahren lag er eher bei 60 Prozent. Es hat also in den vergangenen zehn Jahren eine Verschiebung von historischem Ausmaß stattgefunden. Das sehen wir auch an unseren Zahlen: Bei uns hat sich im Jahresvergleich die Nutzung unseres Katalogs im Streaming um 49 Prozent erhöht. Wenn man sich überlegt, dass in der Zeit der Gesamtmarkt in Deutschland um acht Prozent gewachsen ist, ist da ein ganz signifikantes Zeichen dafür, dass sich da gerade mächtig was bewegt. 

Tatsächlich wird schon die Renaissance der Branche gefeiert, weil die Umsatzzahlen nicht mehr schrumpfen, sondern wachsen. Ist das wirklich die Wende?
Ja, wir sind auf dem Weg, in absehbarer Zeit alte Rekordmarken in der Definition des traditionellen Musikmarktes zu erreichen, also im klassischen Publishing- und Recorded Music-Geschäft. Da gehen wir stramm auf die alte Höchstmarke von 25 Milliarden Dollar zu. Aber das interessante wird sein: Ist das dann noch die alte Industrie, wie wir sie kennen und wie sie einmal definiert worden ist? Es ist ein Fehler zu glauben, dass diese Entwicklung eindimensional verläuft und sich nur der Anteil des Streamings am Gesamtkonsum erhöht. Denn das hieße schlicht, die wachsende Bedeutung der Kataloge und ihren Anteil an der Wertschöpfung innerhalb der Konzerne zu übersehen. Dabei wird jetzt extrem viel in Bewegung kommen. In England gibt es plötzlich Fonds, die sagen, na ja, jetzt, wo ich ohne komplexe Geschäftsmodelle einfach in die Monetarisierung der Rechte über digitale Medien investieren kann, schauen wir doch einfach mal, welche Bewertung da möglich ist. Und dann stellen wir plötzlich fest, die traditionelle Industrie steht unter Druck, diese Bewertung in Anbetracht der eigenen Kostenstruktur überhaupt noch mitzumachen.

Weil die Kataloge einen höheren Beitrag leisten und im Vergleich dazu der Apparat, um neue Künstler zu entdecken und sie bekannt zu machen, zu teuer ist?
Ja absolut, vieles deutet darauf hin, dass es Investoren gibt, die das Spiel schon deutlich weiter denken und sehen: Irgendwann werden sich bestimmte Bereiche entkoppeln, und das führt zu einer anderen Wertschöpfung – vielleicht wird sich der Besitz der Rechte und ihre Bewertung abkoppeln von dem Modell der Rechteauswertung, was sehr komplex sein kann. Denn wie viele Leute brauche ich, um die Auswertung von 50.000 Rechten, die seit 60 Jahren bekannt und Teil unserer kulturellen DNA sind, zu maximieren, gegenüber integrierten Modellen, wo ein Konzern alles macht und das in sehr vielen Ländern? Durch solche Fragen stehen jetzt komplette Geschäftsmodelle auf dem Prüfstand und die Zusammensetzung ganzer Unternehmen.

Marktführer Universal will womöglich 2023 an die Börse gehen – was werden die bis dahin tun?
Ich möchte nicht über einzelne Wettbewerber sprechen, aber nehmen wir das Modell einer Musikfirma, wie wir sie kennen. Diese verfügt über einen Bodensatz von Musikrechten, die jenseits von allen Zweifeln sind, also so etwas wie die Beatles, alles, was tief im Katalog ist, und sicher noch sehr lange Zeit Hörer findet. Wenn man nun die Marktbewertung eines Musikfonds wie Hipgnosis nimmt und diese auf die Konzerne anwendet, kommt man auf eine sehr hohe Bewertung dieser Teilbereiche, die aber nur einen kleinen Anteil an den Kosten ausmachen. Mancher Besitzer könnte sich nun fragen: Was passiert eigentlich, wenn ich meine Firma aufteile und praktisch unkaputtbare Teile wie das Kataloggeschäft separat an die Börse bringe?

Das klingt aus Investorensicht womöglich attraktiv – aber was passiert mit den übrigen Sparten der Konzerne, deren Wertbeitrag weniger hoch ist? 
Da entsteht womöglich ein Problem, denn wenn dieser Rest auch noch Sinn machen will, dann muss man gucken, wie effiziente Geschäftsmodelle aussehen. Diese Frage rollt auf die Industrie zu, das ist nicht anders als in anderen Bereichen, wo ebenfalls gebündelte Modelle auseinandergenommen werden – nehmen Sie den Kaufhausmarkt, wo der Real Estate vom Verkauf von Waren getrennt wird. Oder Patent-Portfolien von Konzernen, die separiert werden können. Man kann sich bei vielen Firmen überlegen, was hat eigentlich welchen Wert? Und was ist dann mit dem Rest der Geschichte? Wenn das einmal offengelegt wird, wie es ja gerade in England…

…durch Hipgnosis…
…passiert ist, dann wird sich die Welt daran orientieren. Und dann wird das sicherlich Konsequenzen für alle anderen Player haben. Denn entweder schaut Private Equity sich das an und sagt: Die bewegen sich ja gar nicht, jetzt mache ich mal ein Angebot. Oder die Eigentümer selbst haben eine ähnliche Mentalität, und haben erkannt, dass es etwas zu holen gibt.

Was heißt das für BMG mit seinen Millionen von Rechten - wäre es da nicht auch aus Sicht von Bertelsmann als Besitzer an der Zeit, über einen Börsengang nachzudenken? Oder einen Anteilsverkauf?
Das hängt ja davon ab, aus welcher Perspektive man das sieht. Wenn man sagt, man ist ein Familienunternehmen und hat kein Interesse, in den nächsten 40 Jahren etwas daran zu ändern, dann ist man in einer anderen Position als ein aktivistischer Investor, der Wert maximiert und dann weiterzieht. Sicher ist, dass wir mit Bertelsmann diese ganze Entwicklung mit großem Interesse beobachten.

Beobachten allein wird nicht reichen – die Preise für Kataloge steigen, BMG hat doch auch schon länger nicht mehr zugekauft?
Wenn Sie sich die Preise anschauen, die heute für Musikrechte bezahlt werden, dann bewegen wir uns in einer stark fremdfinanzierten Welt und nicht im Musikgeschäft. Wenn die Preise anders wären, würden wir auch kaufen. Aber derzeit ist BMG nicht im Akquisitionsgeschäft tätig. Alle Major Companies sind gefordert, mehr als acht bis neun Prozent Gesamtkapitalrendite zu erwirtschaften. Das werden wir über Akquisitionen nicht mehr hinkriegen, denn wenn die Multiples jenseits von 20 liegen, kann man Wachstumsraten annehmen, wie man will, da wird es problematisch.

Dann muss es Ihnen darum gehen, Ihre Künstler zu halten – wie wollen Sie das schaffen, wenn Hipgnosis mit dem Scheck wedelt?
Jeder in dieser Branche muss noch genauer darüber nachdenken, wie man „seine“ Künstlerinnen und Künstler bei der Stange halten kann. Unser strategischer Schwerpunkt liegt deshalb auf dem Wachstum durch besseren, faireren und effizienteren Service für unsere Künstlerinnen, Künstler und Songwriter und darauf, ihnen dabei zu helfen, ihre Einnahmen zu maximieren. Wir wollen diejenigen sein, die den größten Wertbeitrag zu den besten Preisen bieten. Und das gilt ebenso für Künstlerinnen und Künstler wie auch für Rechtekäufer wie Hipgnosis, die ihren Investoren schließlich ein sehr unkomplexes Geschäftsmodell versprochen haben und daher die weiteren Leistungen für die Kreativen wohl anderswo sourcen.

Zum Beispiel bei Ihnen?
Zum Beispiel bei uns. Es geht am Ende schlicht um den größten Wertbeitrag und den besten Service zu den besten Preisen. Eine Diskussion, vor der sich die Musikindustrie jahrelang gedrückt und stattdessen lieber von ihrer eigenen Kreativität geredet hat. Tatsächlich geht es aber doch darum: Was sind Künstlerinnen und Künstler noch bereit, für die Wahrnehmung ihrer Rechte oder bestimmte Wertschöpfungsbereiche zu bezahlen? Und was erwarten Investorinnen und Investoren von denjenigen, die für sie die erworbenen Rechte auswerten? Beide Seiten werden einen Partner suchen, der neben Kreativität das effizienteste und verlässlichste Leistungsversprechen hat.


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Herr Masuch, Sie stehen jetzt seit fast 30 Jahren für Bertelsmann auf der Bühne und seit vielen Jahren an der Spitze von BMG – wie lange haben Sie noch Spaß daran?
Kürzlich habe ich gesehen, wann ich meine erste Rock-Single gekauft habe – das war 1965. Ich befasse mich mit etwas, was mir schon immer Spaß macht, nämlich mit Künstlerinnen, Künstlern und Songwritern. Warum soll ich damit aufhören? Solange mir meine Familie und Bertelsmann das Vertrauen schenken, tue ich das gern. Ich habe das Glück, dass ich mit vielen Idolen meiner Jugend am gleichen Tisch sitzen kann – viel besser kann‘s nicht werden.
 

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