Werbesprech
Nach wie vor laufen alle Marketer und Werber der jungen Zielgruppe hinterher. Quelle: imago images

Werber laufen wie Lemminge der falschen Zielgruppe nach

Von allen Regeln für erfolgreiche Markenführung befolgt Werbung nicht eine einzige. Allem Anschein nach wird das auch 2020 so bleiben. Ist der Branche noch zu helfen?

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Das neue Jahr fängt nicht gut an für Werber. Das Marktforschungsinstitut Forsa hat für das aktuelle RTL/ntv-Trendbarometer das Vertrauen in Institutionen abgefragt. Zuerst die gute Nachricht: Das Vertrauen in Polizei, Ärzte, Bundeswehr, in die Presse, den Zentralrat der Juden und selbst ins Fernsehen ist gestiegen. Die schlechte: Die Werber haben ein weiteres Mal verloren. Sie landen nach Unternehmern, Banken, Versicherungen und Managern weit abgeschlagen auf dem letzten Platz.

Da möchte man annehmen, dass sich die Werbebranche für das neue Jahr einiges vorgenommen hat, um diesen Missstand abzubauen. Wenn die Menschen nämlich kein Vertrauen in die Werber haben, darf sich die Branche nicht wundern, wenn die Aufmerksamkeit für ihre Kampagnen und damit auch die Werbewirkung immer weiter sinkt.

Es muss sich also etwas ändern. In einem Beitrag für das Magazin „Markenartikel„ beschreiben Jesko Perrey und Sascha Lehmann von McKinsey die Lage der Markenführung so: „Der Dreiklang aus Science, Art und Craft hat Bestand. Gerade in einer multioptionalen, hochmobilen, digitalen und veränderungsfreudigen Gesellschaft sind starke Marken auf ein solides konzeptionelles Fundament, Kreativität und Disziplin angewiesen. Allerdings zeigen die Ergebnisse aktueller Studien auch, dass in allen drei Bereichen neue Methoden und Modelle gefragt sind.“

„Wir“, schreiben die Autoren weiter, „leben in schnelllebigen Zeiten. Verbraucher springen mit einem Fingerstreich von Marke zu Marke, von Produkt zu Produkt und von Händler zu Händler. Gleichzeitig beschleunigt die Markenkommunikation sich bis hin zur automatischen Ausspielung maßgeschneiderter Botschaften in Echtzeit. Neue Mikromarken bedienen immer kleinere Zielgruppen mit immer spezielleren Nutzenversprechen. Zudem hat das Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressourcen und die Verwundbarkeit unseres Planeten weite Teile der Öffentlichkeit erfasst.“

Das ist alles richtig - aber kalter Kaffee. Die Probleme rund um die drei Fragezeichen Science, Art und Craft sind nicht neu. Die Marketingwissenschaft („Science“) besitzt zahlreiche Erkenntnisse, an die sich jedoch niemand hält. Byron Sharp veröffentlichte sein wegweisendes Buch „How Brands Grow“ bereits vor zehn Jahren. Darin beschreibt er, warum und wie Marken jedes Jahr neue Käufer gewinnen müssen und dass hierzu kontinuierliche und öffentlich sichtbare Kampagnen nötig sind, die große Zielgruppen erreichen.

Doch die Werbe-Wirklichkeit sieht anders aus. Seit zehn Jahren bemühen sich Werber, ihre angeblich maßgeschneiderten Kampagnen an immer weniger Zielpersonen auszuspielen. Sie glauben, damit die Effizienz zu steigern und erreichen das genaue Gegenteil. Insbesondere die digitale Werbung nervt die Menschen wie nie zuvor, macht sie zu Werbehassern und treibt die Zahl der adblockenden User in schwindelerregende Höhen. Lernen die Werber daraus? Nein, sie machen weiter, als wäre nichts geschehen.

Lotsen in die falsche Richtung

Big Data und Künstliche Intelligenz lotsen das Marketing oftmals in die falsche Richtung. In seinem Blog „Indiskretion Ehrensache„ schreibt Agenturchef Thomas Knüwer vom Anlauf zur Big-Data-Enttäuschung: „Andere Marken werden versuchen, mit IT-Investitionen zu lernen. Marketingverantwortliche werden 2020 sehr hohe Summen in MarTech investieren - und 2021 werden die meisten von den Ergebnissen enttäuscht sein.“

In den „Horizont“-Trends für 2020 heißt es denn auch: „Die bisherigen Bemühungen, kreative Maschinen zu konstruieren, sind weitgehend gescheitert. Kreativität erfordert Intuition und das sind Schwachstellen für Computer.“ Was den Autor aber nicht davon abhält, zu glauben, dass Big Data ebendiese Schwachstellen kompensieren kann.

Und Facebook-Chef Mark Zuckerberg glaubt derweil ernsthaft an den baldigen Durchbruch von Augmented Reality.

Marketing ist wie Sex

Die allseits geforderte Effizienz ist es, die die Werbung nachhaltig beschädigt. Sie kommt von Marketingmanagern, die über stagnierende Budgets klagen. Doch Effizienz hat noch nie zu erfolgreichen Kampagnen geführt. Rory Sutherland, Vice Chairman der Agentur Ogilvy, schreibt in einem Beitrag für das Portal „Campaign„: „Marketing is one of those complex fields of human activity, like military strategy or sex, where efficiency and effectiveness are poorly correlated.“ Im Marketing gibt es demnach eine nur äußerst schwache Korrelation zwischen Effizienz und Wirkung.

Marketing liefert sich der Gefahr aus, seine Hauptaufgabe – die kreative Markenführung – komplett aus dem Fokus zu verlieren. Stattdessen müssen angesichts von Themen um Ad Fraud, Brand Safety, DSGV und ePrivacy-Verordnung immer mehr Ressourcen darauf verwandt werden, Risk Management zu betreiben. Inzwischen, schreibt „Marketing Week„, braucht man im Marketing einen Chief Security Officer. Das alles sind Entwicklungen, die das Marketing in eine regelrechte Sinnkrise zu stürzen drohen.

Das Ende der Kreativität

Kaum anders ist die Situation bei der Kreation („Art“). Die Kreativen klagen seit Jahren über sinkende Honorare und die zunehmende, wirtschaftlich unsichere Vergabe reiner Projektaufträge. Das ist weder motivierend, noch spornt es Kreative zu Höchstleistungen an.

„Ad Age“ kürte jüngst die kreativsten Kampagnen des Jahrzehnts. Auf Platz 1 wählten sie Volvos „Epic Split“ aus dem Jahr 2013 und auf Platz 3 Nikes „Write The Future“ aus dem Jahr 2010. Bezeichnend, dass diese Kampagnen uralt sind. Die letzten Jahre haben die Kreativbranche offenbar nicht viel weitergebracht. Von der Verleihung der 2019er Lions in Cannes bleiben nur wenige Kampagnen in Erinnerung, sondern vielmehr die Kritik, dass alle zwar von „Brand Purpose“ (Haltung) faselten, sie jedoch nirgends zu sehen war. Es kommt einem vor, als würden die Marketingleute nicht einmal mehr an sich selbst glauben.

Und über die Vergabe der deutschen ADC-Preise schrieb „W&V„: „Qualität in der Breite, dafür weniger Highlights“. Schlimmer noch: Keiner der Top-3-Preise ging an eine Marke, stattdessen an Institutionen wie Reporter ohne Grenzen, die Berliner Philharmoniker und 100 Jahre Bauhaus. Kein Wunder, dass die Markenwerbung krankt.

„Senioren“ an der Macht

Kommen wir zum letzten der drei Punkte, dem Handwerk („Craft“). Hier reicht als Beispiel der Umgang mit Zielgruppen. Nach wie vor glauben landauf landab alle Marketer und Werber an die Magie und Kraft der jungen Zielgruppe. In der überwältigenden Mehrzahl aller Briefings aus den Marketingabteilungen deutscher Markenunternehmen haben Mediaplaner die „werberelevante“ Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen anzusprechen. Unverändert – heute wie vor dreißig Jahren.

Marketing will, im absoluten Gegensatz zur Wirklichkeit des Marktes, nicht wahrhaben, dass es die über 45-Jährigen sind, die für die höchste Kaufkraft und den Löwenanteil des Konsums verantwortlich sind. Dafür hält Marketing Science hunderte Belege und Nachweise bereit, die jedoch allesamt von den Werbern ignoriert werden.

Ein hochaktuelles Beispiel: „Markenartikel“ zitiert aus einer aktuellen Statista-Studie: „Für 357 Euro haben die Bundesbürger dieses Jahr im Monat eingekauft. Besonders ausgabefreudig zeigten sich Männer und ältere Verbraucher. Im Schnitt kauften Männer für 401 Euro ein, Frauen hingegen für 315 Euro. Von allen Altersgruppen griffen die 45- bis 54-Jährigen am tiefsten in die Tasche: Sie gaben durchschnittlich 404 Euro pro Monat aus und lagen damit knapp vor den 55- bis 64-Jährigen, die monatlich für 402 Euro einkauften. Am wenigstens gaben Verbraucher im Alter von 16 bis 24 Jahren und 25 bis 34 Jahren aus – pro Monat nämlich nur 213 Euro beziehungsweise 329 Euro.“

Marketing-Lemminge am Abgrund

Aber keine Sorge: Solche Fakten werden die Werber auch 2020 weder wahrnehmen, noch sie für ihre Arbeit umsetzen. Sie werden weiter, Lemmingen gleich, die jüngsten und kaufkraftschwächsten Verbraucher ins Visier ihre Kampagnen nehmen. Sie werden ebenso wahrscheinlich keine großen, kreativen Kampagnen lancieren, sondern weiterhin an kleine, unsichtbare, dafür aber angeblich maßgeschneiderte Botschaften für Mikro-Zielgruppen glauben.

Dem Verbraucher wird es recht sein, denn so bleibt er von den meisten Kampagnen verschont. Den Werbern ist an der Schwelle zum neuen Jahrzehnt nicht zu helfen. Ein schwacher Trost: tiefer als auf den letzten Platz im Vertrauensranking können sie ohnehin nicht sinken.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%