Gazprom Zug um Zug in der Energiekrise

Der russische Gasproduzent Gazprom baut seine Marktmacht in der Energiekrise geschickt aus. Quelle: imago images

In Luxemburg beraten die EU-Finanzminister diese Woche über Europas Energiekrise. Die Zeit drängt, denn der russische Monopolist Gazprom baut seine Macht aus – im Norden und im Süden.

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Es wird viel gesprochen in der EU in dieser Woche. Gestern trafen sich die Finanzminister der Euro-Gruppe in Luxemburg, heute kommen dort alle Finanzminister zusammen. Und heute Abend begegnen sich sogar die Chefs, die Staats- und Regierungschefs bei einem Tête-à-Tête, bei einem informellen Abendessen in Slowenien. Gelegenheit gibt’s also eigentlich genug, um das zentrale Problem dieser Tage anzugehen, es irgendwie in den Griff zu bekommen: die Energiekrise. Denn einerlei, ob Öl, Gas oder Strom: Die Energiepreise steigen, scheinbar ungezügelt, völlig außer Kontrolle. Die Heizkosten! Die Inflation! Unsere Souveränität! Der Unmut vieler Bürger wächst. Und spätestens bis Ende Oktober soll eine gemeinsame europäische Haltung her, Lösungsansätze, denn dann treffen sich die Chefs zu einem offiziellen Gipfel.

Es ist wie so oft: Für Europa steht bei der Energie wieder einmal viel auf dem Spiel, eigentlich alles. Die Solidarität unter den mehr oder weniger von den Preisen betroffenen Mitgliedern; die Frage, wie sehr die aktuellen Kosten Hypotheken für den Green Deal sind, der auch darauf setzt, Energiepreise nach und nach zu verteuern; und die nicht minder elementare Frage nach dem Umgang mit der Kernenergie. Denn in Frankreich etwa schütteln sie immer noch und immer wieder den Kopf über jene vermeintlich naiven Deutschen, die – ausgerechnet jetzt, nämlich bis 2022 – nichts Besseres zu tun haben, als aus der Atomenergie aussteigen zu wollen – und damit unweigerlich ihre energiepolitische Abhängigkeit vom Gas und damit ihre geostrategische Abhängigkeit von Russland erhöhen.

Und tatsächlich hat gerade der russische Staatskonzern Gazprom in den vergangenen Tagen wieder vorgeführt, wie geschickt er es versteht, aus der gegenwärtigen Situation Profit zu schlagen, unternehmerisch und politisch. Denn einerseits achtet Gazprom Verträge. Gleichzeitig verhält sich der Konzern so, dass Ängste, Gaspreise und Gazproms Macht wachsen.

von Florian Güßgen, Max Haerder, Stefan Hajek, Henryk Hielscher, Nele Husmann, Michael Kroker, Bert Losse, Jürgen Salz, Cordula Tutt, Silke Wettach

Dabei geht es nicht immer nur um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Das jüngste Beispiel hatte vordergründig gar nichts mit Nord Stream 2 zu tun. Es ging um einen Deal mit Ungarn. Seit dem 1. Oktober schickt Gazprom Gas nach Ungarn. Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches, wenn nicht der Transportweg jetzt ein besonderer wäre. Denn das Gas strömt nicht wie bisher über das Leitungssystem der Ukraine, sondern über die im Januar 2020 fertiggestellte TurkStream-Pipeline. Diese Pipeline verläuft durch das Schwarze Meer bis in die Türkei. Von dort wird Gas über nationale Pipelines nordwestlich Richtung Europa, nach Serbien, Bulgarien, Österreich und dann nach Ungarn transportiert.

Für die Ukraine kommt das einem Affront gleich, denn die Ukrainer unterstellen Gazprom und damit dem Kreml, sie gezielt zu umgehen, um damit Transitgebühren zu sparen und die Regierung in Kiew zu schwächen. „Heute hat Gazprom den Transit von Erdgas durch die Ukraine in Richtung Ungarns eingestellt“, hieß es am Freitag in einem Tweet des ukrainischen Pipeline-Betreibers Gas Transmission System Operator of Ukraine (GTSOU). Und: „Die GTSOU hat keine Bitte um Durchleitung erreicht, trotz der Tatsache, dass es einen Vertrag gibt, der eine Durchleitungskapazität nach Ungarn in Höhe von 24,6 Millionen Kubikmetern pro Tag für die nächsten zwölf Monate vorsieht.“ Die Interpretation dieses Vorgangs lieferte GTSOU-Chef Sergej Makogon gleich mit, per Zeitungsbeitrag und in Online-Diskussionen: Europa werde mit „Putins Energiewaffe“ angegriffen, sagte und schrieb Makogon.

Diese Wortwahl ist wichtig, denn erst im Juli hatte US-Präsident Joe Biden gesagt, dass „Russland Energie nicht als Waffe einsetzen“ dürfe, um seine Nachbarn zu etwas zu zwingen oder zu bedrohen. Die Forderung aus der Ukraine lautet deshalb jetzt: Die verstoßen gegen eure Regeln. Also sanktioniert Moskau. Sofort.

In einem Online-Beitrag Magokons für den US-Thinktank „Atlantic Council“ heißt es: „Ob Deutschland das nun zugibt oder nicht: Russland zielt mit seiner Energiewaffe auf die ganze EU. Die Drohungen, Russland irgendwann in der Zukunft zu bestrafen, sind nicht mehr ausreichend. Die Glaubwürdigkeit der Abschreckung des Westens steht auf dem Spiel – und jetzt ist der Zeitpunkt, um zu antworten.“ Juri Witrenko, Chef des staatlichen Gaskonzerns Naftogaz, legte auf Facebook nach: „Das ist der offensichtliche Einsatz von Gas als Waffe.“ Auch er erwarte nun, dass gegen Nordstream 2 Sanktionen verhängt würden.

Gazprom reagiert auf diese Vorwürfe gelassen. „Heute starteten russische Erdgaslieferungen nach Ungarn und Kroatien über eine neue Route“, hieß es in einer Pressemitteilung bündig. Jenseits dessen ist die Sprachregelung Gazproms so: Wir halten uns an Verträge, auch mit der Ukraine. Darüber hinaus könne das Unternehmen jedoch seine Transportrouten nach Belieben wählen. Und tatsächlich ist es nicht immer ganz einfach, Gazproms Verhalten zu verteufeln. Ja, der Konzern liefert derzeit nicht mehr Gas als zugesagt nach Europa. Ja, das ist ein Problem. Und ja, das mag auch daran liegen, dass Moskau Druck ausüben will, Zug um Zug, im Süden mit TurkStream, im Norden mit Nord Stream 2.

Aber tatsächlich lassen sich einige Argumente des Konzerns nicht leicht abtun: Die Europäer haben Gazprom etwa darauf gedrängt, eher kurzfristigere Lieferverträge abzuschließen, hatten Gazprom auch darauf gedrängt, den Gaspreis nicht an Öl-Indizes, sondern an Spot-Markt-Preise zu koppeln. Beides treibt jetzt die Kosten für die Megawattstunde Gas. Und die Europäer haben von Gazprom auch lange erwartet, dass es alle Marktrisiken trug, etwa als der Gaspreis - wie 2020 - im Keller war. Da scheint es doch sehr wohlfeil, wenn die Europäer sich jetzt über Gazprom beschweren, da der Markt sich zu Gunsten des Anbieters entwickelt. So ist er eben, der Markt.



Dazu kommt, dass Gazprom gerade den Gasmarkt nicht alleine treibt. Es ist vor allem die hohe asiatische Nachfrage nach LNG, nach Flüssiggas, die LNG in Europa knapp macht. Und auch andere geopolitische Konflikte haben Auswirken auf den Gasmarkt in Europa. So droht Algerien damit, Ende Oktober eine Pipeline zu schließen, die Gas über Marokko, den regionalen Rivalen, nach Spanien und Portugal schafft. In der vergangenen Woche eilte der spanische Außenminister extra nach Algiers, um dort die Wogen zu glätten – mit handfesten Projektplänen für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Gepäck. Nicht nur die Energiepreise, auch die Energiediplomatie, erlebt derzeit wieder ein Hoch.

Aber dass die Zeit drängt, ist offensichtlich. Am Anfang gab es Schreckensmeldungen vor allem aus Großbritannien. Aber längst spüren energieintensive Unternehmen auch in Deutschland die Energiekrise, vor allem in der Chemiebranche, die wie keine andere abhängt vom Gas, nicht nur als Energiequelle, sondern auch als Werkstoff. Die Hoffnung in vielen Unternehmen ist, dass die vielen politischen Gespräche irgendwann auch Wirkung zeigen – und sich im Preis widerspiegeln. Positiv.

Mehr zum Thema: Massiv steigende Preise für Gas, Öl und Strom belasten Industrie und Verbraucher. Wie eine neue Regierung gegensteuern müsste – und Anleger an dem Trend verdienen, lesen Sie in der Titelgeschichte Wird Energie zum Luxusgut?

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