Nach dem vorläufigen Stopp von Corona-Impfungen mit dem Präparat von AstraZeneca vertagen Bund und Länder Entscheidungen für einen Impfstart in den Arztpraxen. Eine für diesen Mittwochabend vorgesehene Telefonkonferenz der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten wird verschoben, bis eine Entscheidung der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) zum weiteren Umgang mit AstraZeneca vorliegt, wie ein Sprecher der Bundesregierung am Dienstag mitteilte. Der vorläufige Impfstopp bringt Unsicherheit in die Planungen. Über das weitere Vorgehen ist neuer Streit entbrannt.
Bei den Bund-Länder-Beratungen sollte es vor allem darum gehen, wann auch Hausärzte auf breiter Front mitimpfen sollen. Dabei geht es um eine schrittweise Einbeziehung neben den bestehenden Impfzentren, die die Länder behalten und weiterhin auch zuerst mit Impfstoff beliefern wollen. Die Gesundheitsminister von Bund und Ländern hatten einen breiten Impfstart in den Praxen bisher spätestens für die Woche vom 19. April angepeilt - dies ist nun aber ungewiss. Der Impfstoff von AstraZeneca kann auch gut in Praxen eingesetzt werden, weil er nicht so stark gekühlt werden muss wie etwa das Präparat von Biontech.
Wie einige andere europäische Länder hat auch Deutschland Impfungen mit AstraZeneca nun als „reine Vorsichtsmaßnahme“ ausgesetzt, wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Montag mitgeteilt hatte. Hintergrund ist eine entsprechende Empfehlung des für die Impfstoff-Sicherheit zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) nach Meldungen von Blutgerinnseln in zeitlichem Zusammenhang mit einer AstraZeneca-Impfung.
Die EMA arbeitet an einer erneuerten Bewertung des Impfstoffs. Die Sicherheitsexperten wollen am Donnerstag über mögliche weitere Schritte entscheiden, teilte die EU-Behörde mit. Von sieben in Deutschland gemeldeten Fällen mit Thrombosen (Blutgerinnseln) der Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang zur Impfung verliefen drei tödlich, wie PEI-Präsident Klaus Cichutek in der ARD sagte. Bisher wurde das AstraZeneca-Präparat hierzulande mehr als 1,6 Millionen Mal verimpft. „Wir haben aufgrund von neuen Untersuchungen, aber auch neuen Meldungen, eine neue Lage“, sagte Cichutek.
Mit Blick auf Großbritannien, wo solche Fälle in dem Maß noch nicht bekannt wurden, erklärte er, der Fokus sei bisher auch nicht speziell darauf gerichtet gewesen. „Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger wollen sich darauf verlassen, dass die Impfstoffe, die wir anbieten, sicher sind und wirksam sind.“ Zu Auswirkungen auf die Impfkampagne sagte er: „Wenn es ein bisschen länger dauert, ist das ok.“
Die Entscheidung traf aber auch auf Kritik. Der Pandemiebeauftragte des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München, Christoph Spinner, sagte der Deutschen Presse-Agentur, Sicherheit stehe zwar an oberster Stelle - das Aussetzen könne man aber zumindest hinterfragen. „Die Ereignisse sind sehr selten“, sagte er mit Blick auf die Zahl der Vorfälle. Und: „Wir impfen derzeit prioritär Menschen mit Vorerkrankungen.“ Diese Patienten hätten teils von vornherein ein gesteigertes Thromboembolie-Risiko.
Wie sich die Corona-Impfstoffe unterscheiden
Forscher liefern sich weltweit ein Wettrennen um wirksame Impfstoffe gegen Covid-19. Alle Impfstoffkandidaten basieren auf demselben Grundprinzip: Dem Abwehrsystem des Körpers werden Teile des Coronavirus präsentiert (Antigene), auf die die Immunzellen eine Antwort (Antikörper) herausbilden und so eine Immunität gegenüber dem Krankheitserreger aufbauen.
Dabei gibt es ganz unterschiedliche Herangehensweisen, etwa, welche Antigen-Teile dem Immunsystem wie präsentiert werden. Hier stehen derzeit zwei Entwicklungslinien im Fokus:
- Impfstoffe mit Vektorviren, das bedeutet so viel wie "Träger-Viren"
- und die neuartigen mRNA-Impfstoffe.
Stand: 11. Mai 2021
mRNA-Impfstoffe enthalten Abschnitte aus dem Erbgut des Coronavirus, die sogenannte messenger-RNA (kurz mRNA), die auch als Boten-RNA bezeichnet wird. Hiervon wird eine sehr geringe Menge dem Menschen in den Muskel injiziert. Die Körperzellen nehmen die Partikel auf und entschlüsseln die enthaltene Erbinformation. Kurzzeitig produzieren sie ein sogenanntes Spike-Protein, das an der Oberfläche des Coronavirus sitzt. Es macht vereinfacht gesagt dem Immunsystem deutlich, dass hier etwas Körperfremdes zu finden ist, das es unschädlich zu machen gilt. Für dieses Oberflächenprotein bildet das Abwehrsystem also Antikörper, die es ihm bei einer späteren Infektion mit dem Coronavirus ermöglichen, den Eindringling schnell zu erkennen und sofort eine Immunantwort parat zu haben.
Studien haben gezeigt, dass hiervon keine Gefahr für den menschlichen Körper ausgeht. Die eingeschleusten Erbgut-Teilchen werden innerhalb kurzer Zeit von den menschlichen Zellen abgebaut. Sie werden nicht in die menschliche DNA eingebaut. Sobald die mRNA des Impfstoffs abgebaut ist, findet keine weitere Produktion des Antigens statt.
Die mRNA-Impfstoffe können innerhalb weniger Wochen in sehr großen Mengen hergestellt werden. Sie bringen jedoch die Herausforderung mit sich, dass sie nach derzeitigem Forschungs- und Entwicklungsstand bei extrem niedrigen Temperaturen transportiert und dauerhaft gelagert werden müssen (-20 bis -80 Grad Celsius). Deshalb werden sie vorrangig in speziell dafür ausgerüsteten Impfzentren verabreicht. Hier soll der Moderna-Impfstoff allerdings einen Vorteil haben: Laut dem Hersteller kann er bis zu 12 Stunden bei Raumtemperatur und 30 Tage im Kühlschrank (2 bis 8°C) gelagert werden.
Für vektorbasierte Impfstoffe werden für Menschen harmlose Viren als kleine Transporter zweckentfremdet – sozusagen als trojanisches Pferd. Die Viren werden so verändert, dass sie in ihrem Erbgut auch den Bauplan für einen oder mehrere Bestandteile (Antigene) desjenigen Erregers enthalten, gegen den eine Immunität (Antikörper) aufgebaut werden soll. Das Prinzip ist immer das gleiche: Die menschlichen Zellen sollen auch hier Teile des Spike-Proteins des Coronavirus herstellen, damit das Immunsystem "weiß", wen es angreifen soll.
Auch hier werden die Viren-Erbinformationen nicht in die menschliche DNA eingebaut. Nach dem Abbau der von den Vektorviren übertragenen Erbinformation findet keine weitere Produktion des Antigens statt.
Vektorimpfstoffe wurden bereits zugelassen (zum Beispiel Ebola-Impfstoffe). Die Corona-Impfstoffe der Firmen AstraZeneca und Johnson & Johnson (J&J) sind Vektorimpfstoffe. Diese haben gegenüber den mRNA-Impfstoffen den Vorteil, dass sie bei Temperaturen von 2 bis 8 Grad Celsius transportiert und gelagert werden können. Das macht ihren Einsatz in normalen Hausarztpraxen simpler. Das J&J-Präparat hat zudem den Vorteil, dass es nur einmal verabreicht werden muss. Die drei anderen bislang in Deutschland zugelassenen Corona-Impfstoffe (von AstraZeneca, Biontech/Pfizer und Moderna) müssen zwei Mal gespritzt werden.
Quelle: RKI, eigene Recherche
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen nannte den Stopp auf Basis geringer Fallzahlen angesichts der dritten Corona-Welle fahrlässig. „Eine Alternative wäre es, über das überschaubare Risiko ausführlich aufzuklären und weiterhin jene Menschen zu impfen, die eine Impfung mit AstraZeneca möchten“, sagte er der dpa.
Der Vorsitzende des Weltärztebunds, Frank Ulrich Montgomery, hält das Präparat zwar für sicher. „Trotzdem ist es richtig, dass die nationalen Behörden die Verdachtsfälle auf schwere Nebenwirkungen prüfen“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er könne nachvollziehen, wenn es Vorfälle gebe wie in Dänemark, dass man dann erst einmal prüfe, bevor man weiter impfe.
Dänemark hatte als erstes Land AstraZeneca-Impfungen ausgesetzt, nachdem es im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung einen Todesfall gab. Andere Länder zogen nach. Nach Deutschland verkündete auch Spanien einen Stopp. Allerdings sind die Einschätzungen international durchaus unterschiedlich. So ließ sich in Thailand Ministerpräsident Prayut Chan-o-cha am Dienstag mit dem AstraZeneca-Mittel impfen und erklärte: „Es wurde verifiziert, dass es durch den AstraZeneca-Impfstoff keine schlechte Reaktion gibt.“
Die FDP-Gesundheitspolitikerin Christine Aschenberg-Dugnus sagte, die Entscheidung Spahns habe eine Kettenreaktion ausgelöst, die nun die gesamte Impfkampagne zurückwerfe. „Deshalb wäre gerade jetzt ein Impfgipfel nötig, um mit allen Beteiligten zu beraten. Er muss noch diese Woche stattfinden, damit es Klarheit gibt.“ Dabei müssen alle Optionen auf den Tisch, um die Impfkampagne zu beschleunigen.
Das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (ZI) rechnet mit deutlichen Verzögerungen im rechnerischen Zeitplan. „Dies würde das Impfergebnis um einen Monat rechnerisch nach hinten verschieben“, sagte ZI-Chef Dominik von Stillfried dem „Handelsblatt“. Dann könnten statt im August erst im September alle Impfwilligen eine zweite Dosis erhalten. Das Rechenmodell des Instituts geht davon aus, dass die bisher zugelassenen Mittel von Biontech/Pfizer, Moderna und Johnson & Johnson, wie zugesagt kommen und Hausärzte frühestmöglich mitimpfen.
CSU-Chef Markus Söder glaubt nach eigenen Worten nicht, dass die AstraZeneca-Impfungen generell ausgesetzt bleiben. Es würden nach der Prüfung der Vorfälle noch viele Gruppen damit geimpft werden können, sagte er in der ARD. „Ich würde mich auch sofort hinstellen.“ Er riet, die Zweitimpfung weiter hinauszuschieben, die Ärzte frühzeitig einzubinden und die festgelegte Impfreihenfolge zu lockern.
Der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans warf Spahn vor, sich nach den dänischen Vorfällen noch an die Einschätzung der EMA gehalten zu haben und nun umgeschwenkt zu sein. „Hals über Kopf eine Woche vorher zu sagen, die Risiken sind kleiner als der Nutzen, und dann ein paar Tage später, wenn sich alle darauf einstellen, dass jetzt geimpft wird, zu sagen: „Na ja, das ist mir jetzt zu heiß“, zeugt auch nicht von einer besonnenen, überschauenden Politik“, sagte er im ZDF.
Mehr zum Thema: Zu geringe Wirksamkeit, zu viele Nebenwirkungen: Viele Deutsche wollen sich lieber nicht mit AstraZeneca impfen lassen und sagen ihre Termine ab. In einem schriftlich geführten Interview nimmt Klaus Hinterding, einer der Geschäftsführer von AstraZeneca in Deutschland, Stellung zu den Vorwürfen.