Fachkräftemangel Arbeitsmarkt: „Mitte der 2030er-Jahre ist der Schrumpfungsprozess vorbei“

Fachkräftemangel sorgt für lange Schlangen am Flughafen Quelle: imago images

Der Wissenschaftler Gerd Zika warnte vor 22 Jahren vor einem „drohenden Arbeitskräftemangel“. Heute fehlen am Flughafen, im Handwerk und etlichen anderen Branchen Arbeitskräfte. Hat die Politik nicht auf die Forschung gehört?

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Gerd Zika arbeitet seit 1995 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Seit Ende der Neunzigerjahre befasst er sich bei der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit mit dem Fachkräftemangel. Zika warnte damals vor einer Entwicklung, die heute viel bedeutender ist als damals und inzwischen sogar den Wohlstand der Republik gefährdet. Hat die Politik nicht auf Forscher wie ihn gehört? Und was sagt Zika zu der aktuellen Situation an den Flughäfen, auf dem Bau und in der Pflege? Fragen an einen Wissenschaftler, der seiner Zeit voraus war.

WirtschaftsWoche: Herr Zika, im Jahr 2000 schrieben Sie in einer Studie mit zwei Kollegen von einem „drohenden Arbeitskräftemangel“. Heute werden die Schlangen an den Flughäfen tatsächlich immer länger, die Suche nach einem Handwerker oder Kindergartenplatz ist häufig aussichtslos. Frustriert Sie das?
Gerd Zika: Die Zeiten waren damals andere. Als ich am Institut angefangen habe, beschäftigten sich meine Kollegen schon seit Jahren mit Prognosen zur Anzahl der Arbeitskräfte. Und in der wissenschaftlichen Community haben wir auch vor mehr als 20 Jahren bei Vorträgen über den Fachkräftemangel diskutiert. Doch in Deutschland herrschte zu dieser Zeit Massenarbeitslosigkeit. Die Politik tat also kurzfristig alles, um die Unterbeschäftigung zu reduzieren.

Und Sie sagten das Gegenteil voraus: Dass es bald zu wenig Arbeitskräfte gibt – nicht zu viele. Wie kamen Sie darauf?
Zu Beginn der Zweitausenderjahre erlebte ich einen Aha-Moment. Ich blickte auf die demografische Entwicklung und stellte fest: „Moment mal, das wird in einigen Jahren richtig eng.“ Schließlich würde das Arbeitskräfteangebot stark sinken, wenn die geburtenstarken Jahrgänge den Arbeitsmarkt verlassen. In der Öffentlichkeit spielte der Fachkräftemangel jedoch erst ab den 2010er-Jahren eine Rolle. In den Medien wurde darüber berichtet, dass Absolventen aus den Ingenieurs- und Naturwissenschaften fehlen. Dann bekamen immer mehr Menschen keine Pflegeplätze für ihre Angehörigen oder scheiterten bei der Suche nach einem Handwerker. Heute können Gaststätten nicht mehr öffnen, weil sie kaum noch Mitarbeiter finden. Und die langen Schlangen an den Flughäfen oder ausfallende Flüge verhageln den heiligen Urlaub der Deutschen. Auch wenn die Situationen an den Flughäfen und in der Gastronomie eher der Corona-Pandemie geschuldet ist, zeigen die Beispiele, dass der Mangel an Arbeitskräften in der breiten Öffentlichkeit angekommen ist

Gerd Zika ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Quelle: PR

Wollte die Politik ihre Warnungen nicht hören? Schließlich prognostizierten Sie schon 2000, wie sich die Zahl der Erwerbspersonen bis 2040 entwickeln könnte.
Die Politik wirbt ja tatsächlich schon seit Jahren für Handwerksberufe und will mit Initiativen wie dem Girls Day den Frauenanteil in technischen Berufen erhöhen. Auch bei der Zuwanderung brachte die Regierung wichtige Gesetze auf den Weg. Die Regierung trifft in der Regel Entscheidungen für die nächsten vier Jahre – also für ihre Legislaturperiode. Maßnahmen, die aktuell zu Belastungen führen, Ihre positive Wirkung aber erst in 20 Jahren entfalten, sind eher unpopulär.

Gilt das auch in Unternehmen? Immerhin argumentieren Beobachter, dass Unternehmen sich bei der Suche nach neuen Mitarbeitern einfach zu ungeschickt anstellen und deshalb über den Fachkräftemangel klagen.
In der Wirtschaft war das Thema lange Zeit nicht auf der Agenda. Die Unternehmer erhielten jahrzehntelang etliche Bewerbungen auf eine Stellenausschreibung. Damals spielten unsere Prognosen keine unmittelbare Rolle. Schließlich blickten wir mehrere Jahrzehnte in die Zukunft. Wenn nun aber wie heute der Geschäftserfolg mangels Personal bedroht ist, reagieren die Firmen und stocken ihre Budgets für die Personalgewinnung auf.

Hat Sie das geringe Interesse von Wirtschaft und Politik an Ihrer Forschung zweifeln lassen?
Nein. Ich selbst war immer der Überzeugung, dass wir hier sinnvolle Arbeit leisten und die Politik unsere Erkenntnisse benötigt. Auch heute noch hören wir immer wieder, dass wir uns zu sehr mit Langfristprognosen beschäftigen würden. Die aktuellen Probleme seien doch viel wichtiger. Andere Wissenschaftler bezeichnen langfristige Zukunftsprognosen wie unsere generell als unseriös. Doch seit gut fünf Jahren ist das Interesse an unserer Arbeit stark gestiegen. So arbeiten wir etwa im Rahmen des Fachkräftemonitorings eng mit dem Bundesarbeitsministerium zusammen.

Lagen Sie mit Ihren Prognosen denn immer richtig?
Eine hohe Zuwanderung wie im Jahr 2015 haben wir selbstverständlich nicht erwartet. Dadurch haben sich die Fachkräfteengpässe einige Jahre nach hinten verschoben. Aber: Dass es zu einem Engpass kommen wird, konnten wir sehr gut voraussagen.



Konnten Sie denn auch den aktuellen Engpass vorhersagen? Am Flughafen und vor allem in der Gastronomie fehlen aktuell viele Hilfskräfte.
Ohne die Pandemie hätte es in diesen Branchen mit großer Wahrscheinlichkeit wohl keinen Engpass gegeben. Und deshalb konnte ihn auch niemand prognostizieren. Zwar haben wir 2010 schon bei Gastronomieberufen Anzeichen für einen Engpass festgestellt. Zu einer Zeit also, als noch niemand in der Gastronomie von einem Fachkräftemangel sprach. Hier galt das Mantra: Für Anlernberufe in der Gastronomie findet man immer jemanden. Wir ergänzten unsere Publikation ganz bewusst um den Hinweis, dass wir zwar rechnerisch Anzeichen für einen Engpass sehen, dieser allerdings nicht so deutlich zutage treten wird, da man offene Stellen auch mit Menschen aus anderen Branchen besetzen könnte. Und so war es in den Jahren bis zur Pandemie ja auch.

In den vergangenen Wochen ist eine Debatte darüber entbrannt, dass die Bevölkerung in Zukunft mehr arbeiten müsse, um die Folgen des Fachkräftemangels abzufedern. Der BDI-Präsident Siegfried Russwurm brachte eine 42-Stunden-Woche ins Spiel. Was halten Sie davon?
In unseren Projektionen zeigt sich, dass die jährliche Arbeitszeit im Durchschnitt wohl ansteigen muss. Vor allem bei der Teilzeitarbeit sehe ich viel Potenzial: Wenn es dank besserer Kinderbetreuung gelänge, mehr Menschen aus der Teil- in die Vollzeit zu holen, wäre das ein großer Hebel.

Wie sehen Ihre Prognosen für die kommenden Jahre aus?
Die Wirtschaft wird wegen des Fachkräftemangels nicht schrumpfen. Sie wird nur langsamer wachsen. Und es gibt auch gute Aussichten: Mitte der 2030er-Jahre ist der Schrumpfungsprozess auf dem Arbeitsmarkt vorbei. Die geburtenstarken Jahrgänge haben den Arbeitsmarkt dann verlassen und wir erreichen ein stabiles Niveau beim Arbeitskräfteangebot. Unternehmen werden sich dennoch daran gewöhnen müssen, dass sie hart um neue Mitarbeiter buhlen müssen. Der Arbeitsmarkt wandelt sich nachhaltig zu einem Arbeitnehmermarkt.

Rezept zum Reichwerden? Das steckt hinter dem System von Deven Schuller

Ein selbsternannter Finanzexperte will seinen Kunden laut eigener Aussage dabei helfen, finanzielle Freiheit zu erreichen, und pflastert das Internet mit Werbung. Was steckt dahinter? Ein Selbstversuch.

Freiberufler-Report So viel verdienen Selbstständige in Deutschland

Zwei Euro mehr pro Stunde – und kaum noch ein Gender Pay Gap: Selbstständigen geht es auch in der aktuell schwierigen Lage recht gut. In welchen Bereichen sie am meisten verdienen.

Leistung Warum Manager es ihren Mitarbeitern nicht zu gemütlich machen sollten

Wenn sich Mitarbeiter sicher fühlen, bringen sie bessere Leistung. Das zumindest ist die Hoffnung. Tatsächlich ist oft das Gegenteil der Fall.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Welche Ansätze ergeben sich daraus für Ihre Forschung?
Wir beschäftigen uns in den kommenden Jahren sehr stark mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Welche Berufe wird es in Zukunft nicht mehr geben? Welche neuen Berufe entstehen? Welche Branchen sind besonders von dem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien betroffen? Und wir haben unsere Prognosen angepasst: Wir blicken jetzt auch verstärkt auf die kommenden fünf Jahre und nicht nur Jahrzehnte in die Zukunft. Das ist im Interesse von Politik und Wirtschaft. Sie können so schneller reagieren.

Lesen Sie auch: Wie viel Geld das Werben um neue Mitarbeiter verschlingt, ist umstritten. Die Jobplattform Stepstone hat die Kosten nun beziffert.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%