Es sind Bilder, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Ein amerikanischer Präsident spaziert durch die Hauptstadt eines Landes im Krieg während ringsherum Sirenen vor Luftangriffen warnen. Gemeinsam mit dem ukrainischen Staatsoberhaupt Wolodymyr Selenskyj ging Joe Biden – der eine Krawatte in den ukrainischen Nationalfarben blau und gelb trug – den Weg vom Mriinsky-Palas hinüber zur St.-Michael-Kathedrale im Zentrum von Kiew. Nach einem kurzen Besuch in der Kirche legten die beiden Präsidenten einen Kranz an der Gedenkmauer für die gefallenen Soldaten des Krieges nieder und teilten einen Moment des Schweigens.
Die tatsächliche Gefahr für Biden dürfte überschaubar gewesen sein. Wenige Stunden vor seinem überraschenden Besuch in der Ukraine hatte das Weiße Haus Russland über die geplante Visite informiert, um Zwischenfälle zu vermeiden. Trotzdem ließ Moskau über Belarus – rund 20 Flugminuten von Kiew entfernt – einen MiG-Kampfjet aufsteigen und löste so den Luftalarm aus. Doch Biden ließ sich nicht verunsichern.
Auch wenn die Russen vorgewarnt waren: Bidens Besuch war eine Überraschung. Noch am Wochenende hatte das Weiße Haus einen Abstecher des US-Präsidenten während seiner für Montag geplanten Reise nach Polen kategorisch ausgeschlossen. Aus Sicherheitsgründen sollte vorab nichts über seine Visite bekanntwerden. Bidens offizieller Kalender hatte ihn noch am Sonntag offiziell in Washington verortet. Dabei war er tatsächlich bereits in Europa, reiste Medienberichten zufolge mit dem Zug nach Kiew.
Biden kam nicht mit leeren Händen. Der US-Präsident versprach, in den kommenden Tagen weitere 500 Millionen Dollar an Militärhilfe freizugeben, erwähnte konkret Artilleriemunition, Javelin-Raketen und Haubitzen. Auf die Wünsche der Ukraine nach moderneren Waffensystemen wie Flugzeuge ging er öffentlich nicht ein. Selenskyj wiederum sagte, er und der Präsident hätten über „Langstreckenwaffen und die Waffen gesprochen, die noch an die Ukraine geliefert werden könnten, auch wenn sie vorher nicht geliefert wurden“.
Doch fast genauso wichtig wie das zusätzliche militärische Gerät dürfte Bidens Anwesenheit in Kiew sein. Der Besuch ist ein Signal – an die Ukraine, an die NATO-Verbündeten, an Russland und an seine Gegner in den USA. Selenskyj, so die Botschaft, könne sich darauf verlassen, dass die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung aufrechterhalten. Ein Jahr nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 sei Kiew nicht gefallen, so Biden. „Die Ukraine steht. Die Demokratie steht.“
Wie Kampfjets der Ukraine im Krieg gegen Russland helfen würden
Die Ukraine hat im Gegensatz zu der klaren Forderung bei Kampfpanzern keine einheitliche Linie, wenn es um die Kampfjets geht. Vizeaußenminister Andrij Melnyk erwähnte faktisch alle bekannten Flugzeugtypen wie die US-amerikanischen F-16, F-35, die europäischen Entwicklungen des Eurofighters und der Tornados, die französischen Rafale und schwedische Gripen. Vor allem aber dürfte es um die F-16 gehen.
Die USA haben umfangreiche und überzählige Bestände an älteren Kampfflugzeugen - inklusive eines großen Flugzeug-Schrottplatzes auf der Luftwaffenbasis Davis-Monthan in Arizona, wo Militärmaschinen ausgeschlachtet werden. Bei den älteren Flugzeugtypen wie F-15 oder F-16 sowie F-10 („Warzenschwein“) könnte es wohl möglich sein, die Instandsetzung auf dem freien Markt einzukaufen. Ersatzteile sind in großer Zahl vorhanden. Grundvoraussetzung ist die Ausbildung.
Kriegsziel der Ukraine ist die komplette Befreiung des von Russland besetzten Staatsgebiets – einschließlich der bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim. Für einen effektiven Vormarsch der demnächst von westlichen Kampfpanzern gestärkten Bodentruppen müssen diese idealerweise von der Luftwaffe unterstützt werden. Aufgrund der weiter funktionierenden ukrainischen Flugabwehr setzt Russland eigene Jets nur begrenzt in Frontnähe für Bombardements ein.
Im Krieg gelingt es beiden Seiten immer wieder, gegnerische Flugzeuge abzuschießen. Berichte über direkte Luftkämpfe zwischen ukrainischen und russischen Kampfjets gab es nur in den ersten Kriegstagen. Westliche Jets könnten hier vor allem Lücken schließen helfen. Doch die Rückerlangung der Lufthoheit wäre auch nach der Lieferung Dutzender Kampfjets aus dem Westen nicht zu erwarten. Das wäre nur möglich, wenn die russischen Flugabwehrsysteme komplett ausgeschaltet werden.
Vor dem Krieg hatte die Ukraine den Londoner Analysten des International Institute for Strategic Studies zufolge etwa 110 einsatzfähige Kampfflugzeuge. 70 davon Jagdflugzeuge des sowjetischen Typs Mig-29 und Suchoi 27. Dazu noch 45 Suchoi 25 und 24 zur Bekämpfung von Bodenzielen. Während des Krieges soll Kiew den Waffenanalysten der Investigativgruppe Oryx zufolge weitere 18 Suchoi 25 aus verschiedenen Quellen erhalten haben. Polen lieferte zudem Medienberichten nach bereits Mig-29 in Einzelteilen, und auch die Bundesregierung steuerte Mig-29-Ersatzteile bei. Das russische Militär will dabei bereits mehr als das Dreifache aller real vorhandenen ukrainischen Flugzeuge abgeschossen haben.
Die westlichen Unterstützer der Ukraine haben inzwischen umfangreiche und schwere Waffen für den Kampf am Boden und zur Flugverteidigung geschickt. Abwehrsysteme wie Patriot und Iris-T wirken überaus effektiv gegen feindliche Flugzeuge, Raketen und Drohnen und dies 24 Stunden am Tag - und schützen doch nur auf einen gewissen Umkreis des eigenen Standortes. Anders Kampfflugzeuge, die zum Schutz großer Regionen geeignet sind, wenn auch nur für beispielsweise eineinhalb Stunden pro Flug.
Mehr noch als zur Überwachung und dem Schutz gegen Angriffe können Kampfflugzeuge als sogenannte Luftnahunterstützung in Kämpfe am Boden eingreifen. Und mehr noch: Sie ermöglichen es, die Kraftquellen („center of gravity“) des Gegners anzugreifen. Die Ukraine wäre befähigt, Nachschubwege, Aufmarschgebiete, Treibstofflager und strategische Ziele Russlands zu zerstören. Spätestens da – so befürchten einige – wird politisch gefährlich, was im Sinne der Selbstverteidigung nicht verboten scheint.
Russland würde die Lieferung von Kampfjets als weiteren großen Schritt sehen für die von Moskau ohnehin seit langem behauptete direkte Beteiligung des Westens an dem Konflikt in der Ukraine. Der für Rüstungsfragen zuständige russische Diplomat Konstantin Gawrilow sagte im russischen Staatsfernsehen, dass die Jets das Kampfgebiet geografisch vergrößern würden. Das bedeute „nichts Gutes“ für Russland, sei aber auch keine Katastrophe.
Mehrere Länder, darunter die USA und Polen, schließen die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine nicht aus. In der Bundesregierung will man dieses Signal nicht setzen. Weder als Vorhaben noch als Option akzeptieren derzeit Politiker der Ampel-Koalition diesen Schritt, ganz vorn Kanzler Olaf Scholz (SPD). Aber auch die Vorkämpfer der Leopard-Lieferung, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und der Grüne Anton Hofreiter, machten deutlich, dass sie gegen eine Lieferung von Kampfjets sind.
Russland hat zwar schon jetzt keine Luftüberlegenheit über der Ukraine – allerdings auch seine Kampfjet-Verbände noch nicht im vollen Umfang im Einsatz. Das russische Staatsfernsehen zeigt fast täglich voller Stolz die zerstörerische Kraft russischer Raketen, die von Flugzeugen abgeschossen werden. Der General und Militärpilot Wladimir Popow sagte in einem Interview der Moskauer Zeitung „MK“, dass Russland die Kampfjets mit Luft-Luft-Raketen abschießen würde. Wenn das nicht gelinge, müssten sie auf den Luftwaffenstützpunkten durch Hochpräzisionswaffen zerstört werden.
Dabei wies auch das Verteidigungsministerium in Moskau zuletzt Angaben des Westens zurück, Russland könnten die Raketen und die Munition ausgehen. Von ihren Zielen der Besetzung der vier ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson will Russlands Machtführung nicht ablassen. Kremlchef Wladimir Putin hat immer wieder betont, dass die Atommacht Russland ihre Interessen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen werde.
Dass der US-Präsident Vertrauen in die militärischen Fähigkeiten seines Gastgebers hat, wurde durch seinen Besuch ebenfalls bestätigt. Wenn amerikanische Staatsoberhäupter in der Vergangenheit Kriegsgebiete besuchten – etwa im Irak oder in Afghanistan – dann hatte das US-Militär dort eine große Präsenz, konnte die Sicherheitsplanung quasi an sich ziehen. In der Ukraine ist das nicht der Fall. Trotzdem ging Biden das Risiko ein. Eine solche Reise habe es noch nie gegeben, betonte das Weiße Haus in einem Briefing, kurz nachdem Biden Kiew wieder verlassen hatte.
Weitere Hilfen für die Ukraine in Aussicht
Und die militärischen Fähigkeiten der Ukraine sollen aus Sicht Washingtons weiter gestärkt werden. Bereits vor Bidens Treffen mit Selenskyj hatte das Weiße Haus eine Erklärung veröffentlicht, die weitere Hilfen für Kiew in Aussicht stellte. „Im vergangenen Jahr haben die Vereinigten Staaten eine Koalition von Nationen vom Atlantik bis zum Pazifik aufgebaut, um die Ukraine mit beispielloser militärischer, wirtschaftlicher und humanitärer Unterstützung zu verteidigen – und diese Unterstützung wird Bestand haben“, hieß es darin.
Es ist eine Botschaft, die auch die europäischen NATO-Partner beruhigen dürfte; vor allem an der Ostflanke des Bündnisses. Die USA, so versicherte Biden mit dem Besuch, stehen zu ihren Verpflichtungen. Daran hatte es vor nicht allzu langer Zeit – während der Amtszeit von Donald Trump – immer wieder Zweifel gegeben. Seit seinem Amtsantritt versucht der US-Präsident, den Alliierten die Verunsicherung zu nehmen. Sein Besuch in Polen, bei dem er auch die Vertreter anderer mittel- und osteuropäischer NATO-Partner treffen wird, dient auch diesem Zweck.
Moskau wiederum kann nach Bidens Besuch in Kiew erst recht nicht mehr erwarten, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine in absehbarer Zeit zurückgefahren wird. Die Visite unterstrich noch einmal, dass Washington seine Verpflichtungen gegenüber dem Land ernst nimmt. Es sei bereits seine achte Reise in der Stadt, sagte Biden, als er am Vormittag mit Selenskyj zusammentraf – „und jedes Mal wird es wichtiger.“ Dann betonte er, dass die USA das Land nicht im Stich lassen würden. „Wir gehen nicht“, so Biden.
Für die Gegner der Ukraine-Hilfen in den USA ist das keine gute Nachricht. Viele sind es zwar nicht, aber ihre Zahl wächst. Einer aktuellen Umfrage zufolge sprechen sich derzeit noch 48 Prozent der US-Bevölkerung für die Unterstützung von Kiew aus. Eine deutliche Pluralität, doch im vergangenen Mai waren es noch 60 Prozent gewesen. Im Kongress steht eine übergroße und überparteiliche Mehrheit hinter den Hilfen, doch besonders am rechten Rand der Republikaner mehren sich die Stimmen, die einen Kurswechsel sehen wollen. Entsprechend harsch fiel die Kritik etwa von Marjorie Taylor Greene aus, eine der prominentesten Abgeordneten des extremen Flügels der Republikaner. Selenskyj könne nicht einmal eine Krawatte tragen, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu begrüßen. „Er nimmt unser Geld im Pullover und T-Shirts, während Biden sich herausputze“, so Greene auf Twitter. „So beleidigend.“
Doch von solchen Pöbeleien dürfte sich der Präsident kaum beeindrucken lassen. „Die Amerikaner stehen mit Euch, und die Welt steht mit Euch“, sagte er nach Angaben von mitgereisten US-Journalisten. Sein Besuch könnte keine bessere Bestätigung dafür sein.
Für Dienstag hat Biden den nächsten bedeutsamen Auftritt geplant: Während der russische Präsident Wladimir Putin sich mit einer Rede an die russische Nation wenden will, wird Biden vor dem Warschauer Königsschloss eine Rede halten – das Schloss steht wie wohl kein zweites Gebäude für den Wiederaufbau Polens nach dem Zweiten Weltkrieg und als Bild für die Unabhängigkeit und Souveränität des polnischen Volkes.
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