Dr. Jörn Quitzau ist Leiter Wirtschaftstrends bei Berenberg und Non-Resident Fellow am American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) in Washington. Gemeinsam mit Prof. Dr. Norbert Walter veröffentlichte er 2011 sein Buch
„Wer soll das bezahlen – Antworten auf die globale Wirtschaftskrise“.
US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden kündigte auf dem Parteitag der Demokraten an, er werde im Fall seiner Wahl „der Präsident aller Amerikaner sein“. Er werde das Land vereinen und auch die Interessen der Bürger vertreten, die ihn nicht gewählt haben. Diese Absicht ist ehrenwert. Auch ist die Sehnsucht nach der Rückkehr einer gewissen politischen Normalität nach vier Jahren mit einer zuweilen polarisierenden Politik-Show weit verbreitet. Dennoch ist fraglich, ob Joe Biden sein Versprechen wird einlösen können. Die amerikanische Gesellschaft erscheint zu heterogen, zu fragmentiert und zu polarisiert, als dass die gesellschaftliche Stimmung durch eine andere Politik in absehbarer Zeit befriedet werden könnte. Wahrscheinlicher ist, dass sich die gesellschaftlichen Spannungen unabhängig vom Wahlergebnis fortsetzen, gegebenenfalls aber mit etwas reduzierter Intensität.
Donald Trump ist weniger die Ursache als vielmehr das Symptom einer gesellschaftlichen Polarisierung, die schon lange vor seiner Wahl im Jahr 2016 begonnen hat. Einer Studie des Pew Research Centers zufolge erreichten die Meinungsverschiedenheiten zwischen Republikanern und Demokraten über Themen wie Einwanderung, nationale Sicherheit oder Umweltschutz bereits während der Präsidentschaft Barack Obamas Rekordniveau. Unter Donald Trump als Präsident sind die bereits bestehenden Unterschiede gleichwohl noch größer geworden.
Die Gründe für diese Polarisierung sind vielfältig. Neben wirtschaftlichen Gründen im engeren und weiteren Sinne sind es auch Fragen der Kultur beziehungsweise des persönlichen Lebensstils, an der sich die Konflikte zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entfachen. Der amerikanische Politikwissenschaftler und Politikberater William A. Galston – er arbeitete unter anderem für Ex-Präsident Bill Clinton – sieht die liberale Demokratie, die sich durch ein Nebeneinander von Mehrheitsregierung und individuellen Rechten auszeichnet, in einer Legitimationskrise. Diese liberale Demokratie steht jedoch nicht nur in den USA unter Druck. Gesellschaftliche Spannungen gibt es auch in vielen anderen Ländern weltweit. Offenbar sind die Ursachen nicht allein auf die amerikanische Politik zurückzuführen und somit werden sie auch nicht allein von ihr – etwa durch einen anderen Politikansatz – beseitigt werden können.

Individualisierung als Grund für gesellschaftliche Spannungen
Offenbar sind in vielen Ländern die Gemeinsamkeiten, welche für das Funktionieren einer Gesellschaft wichtig sind, zu lange vernachlässigt worden. Dafür gibt es nicht nur einen Grund. Insgesamt zeigt sich aber, dass ein erhebliches Spannungsverhältnis zwischen dem von William A. Galston beschriebenen Nebeneinander von Mehrheitsregierungen und individuellen Rechten herrscht. Wir haben einige Jahrzehnte hinter uns, in denen gesellschaftliche Konventionen und Normen viel von ihrer einstigen Bedeutung verloren haben. Der Fokus lag zumeist auf der Stärkung der individuellen Freiheitsrechte. Zudem trug der Siegeszug der Marktwirtschaft dazu bei, dass Unternehmen eine ungeheuer große Vielfalt an Produkten und Dienstleistungen bereitstellen konnten, mit denen sich die Verbraucher heutzutage auch noch so ausgefallene Konsumwünsche erfüllen können. Schließlich ermöglicht die Digitalisierung den Verbrauchern heute, viele Dienstleistungen zu personalisieren und sie auf diese Weise exakt auf ihre individuellen Wünsche zuzuschneiden.
Bei den privaten Konsumwünschen und individuellen Lebensfragen unterliegen die Menschen also immer weniger Beschränkungen. Sie müssen kaum noch Kompromisse schließen. Und genau daraus resultiert ein Problem, das bis heute vielfach nicht ausreichend erkannt wird: Die in einer individuellen und weitgehend ausdifferenzierten Welt kaum noch benötigte Kompromissfähigkeit führt zu Reibungen, wenn Mehrheitsregierungen öffentliche Güter und Dienstleistungen nur als „One-size-fits-all“-Lösungen anbieten können. Denn politische Einheitslösungen erfordern von den Bürgern Zugeständnisse und Kompromissbereitschaft.
Fehlt diese Bereitschaft oder gar die Einsicht, dass die Politik bei öffentlichen Gütern auch mit noch so gutem Willen keine differenzierten Lösungen anbieten kann, werden weit auseinander liegende Präferenzen zu einem erheblichen Problem. Unabhängig von den persönlichen politischen Präferenzen sind Unzufriedenheit und Konflikte programmiert. Dies zeigt sich heute bei vielen gesellschaftlich relevanten Themen, zum Beispiel bei der Umweltschutz- und Klimapolitik, beim Zielkonflikt „Freiheit versus Sicherheit“ und ganz aktuell beim politischen Umgang mit der Corona-Pandemie. Egal, welche Maßnahmen die Politik beschließt, ein nennenswerter Teil der Bürger wird nicht zufrieden sein. Für die einen ist die Klimapolitik zu lasch, für andere zu strikt. Manche Menschen bevorzugen mehr Freiheit, andere mehr Sicherheit. Und genau diese unterschiedlichen Präferenzen und Risikoeinstellungen sind im Verlauf der Pandemie zum Streitpunkt geworden. Über das richtige Maß von Eingriffen in die Freiheitsrechte aller Bürger zum Gesundheitsschutz der besonders gefährdeten Bürger wird inzwischen auch in Deutschland intensiv diskutiert, gestritten und öffentlich demonstriert.
Es ist vermutlich kein Zufall, dass die USA als „Land der Freiheit“ stärker als die meisten Länder Europas von Covid19-Infektionen betroffen sind und dass das Tragen von Mund-Nase-Schutzmasken zu einem regelrechten Politikum hochstilisiert wurde. Amerikaner gelten gemeinhin als besonders freiheitsliebend und risikofreudig. Ein erfolgreicher Kampf gegen die Pandemie erfordert jedoch ein starkes Kollektiv, das – zumindest temporär – bereit ist, zum gegenseitigen Schutz auf gewisse Freiheitsrechte zu verzichten.
Virtuelle Diskussionsräume verschärfen das Klima
Sogenannte Filterblasen und Echokammern werden immer wieder als Teil des Problems benannt, wenn es um die Ursachen der gesellschaftlichen Spannungen geht. Die Möglichkeit, sich im Internet nur noch mit Informationen zu versorgen, die das eigene Weltbild bestätigen, kann die Fragmentierung der Gesellschaft verstärken. Ebenso verhindert das Vernetzen mit Menschen, die das eigene Weltbild teilen, den Austausch mit Menschen anderer Meinung. Dadurch werden nur noch die eigenen Argumente ausgetauscht beziehungsweise wiederholt – man nimmt quasi nur noch das Echo des eigenen Wortes wahr. Der fehlende pluralistische Austausch trägt wohl zu einer stärkeren Abgrenzung und zur Isolation in einzelnen Gruppen bei.
Möglicherweise sind diese Filterblasen und Echokammern aber gar nicht der Kern des Problems. Bevor es das Internet und die sozialen Netzwerke gab, haben die meisten Menschen auch nicht mehrere Zeitungen mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung gelesen, um ein möglichst ausgewogenes Weltbild zu bekommen. Und die meisten Menschen stellen auch in der analogen Welt ihren Freundes- und Bekanntenkreis typischerweise nicht so zusammen, dass sie möglichst oft mit anderen Meinungen und Weltanschauungen konfrontiert werden. Vielmehr wird im Regelfall nach Gemeinsamkeiten gesucht, die ein Leben ohne große Meinungskontroversen ermöglichen.
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Filterblasen und Echokammern sind also kein Spezifikum der digitalen Welt. Deshalb liegt das eigentliche Problem möglicherweise darin, dass die vielen unterschiedlichen Meinungen und Weltanschauungen, die in der analogen Welt nur selten aufeinandertreffen, nun im Internet permanent öffentlich miteinander kollidieren. Vieles, was in der analogen Welt zur Moderation und zum Abkühlen einer Debatte beiträgt – zum Beispiel gegenseitiger Respekt und Verständnis für die jeweils andere Position –, greift in der Anonymität des virtuellen Raumes nur selten.
Es ist keine sonderlich gewagte Prognose, dass die skizzierten Zusammenhänge und Probleme, die in vielen Teilen der Welt gelten, sich durch die US-Präsidentschaftswahl nicht auflösen werden. Viele Ursachen der gesellschaftlichen Spannungen entziehen sich der politischen Gestaltungsmacht. Was der künftige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika jedoch tun kann, ist durch sein Auftreten nicht noch Öl ins Feuer zu gießen und damit die Stimmung weiter anzuheizen.