USA ziehen aus Afghanistan ab Amerikas längster Krieg ist vorbei

Ein US-Militärflugzeug startet vom Flughafen Kabul. Quelle: dpa

Der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan endete in einem Debakel. Nun ist endgültig Schluss mit dem für die USA so schmerzhaften Einsatz. Was wird aus jenen, die es nicht rechtzeitig außer Landes schafften?

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Es ist eine ungewöhnliche Art und Weise, das Ende von Amerikas längstem Krieg zu verkünden. Der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte, Präsident Joe Biden, tat das am Montag nicht selbst, sondern schickte einen seiner Top-Generäle vor. In einer knappen Videoschalte mit Journalisten im Pentagon sagte General Kenneth McKenzie, der zuständige US-Kommandeur für die Region, am Montagnachmittag Washingtoner Zeit jenen folgenreichen Satz: „Ich bin hier, um die Vollendung unseres Abzugs aus Afghanistan zu verkünden.“ Damit ist der verlustreiche Militäreinsatz der USA und ihrer Verbündeten in dem Krisenland nach fast 20 Jahren beendet – und auch die militärische Evakuierungsmission der vergangenen gut zwei Wochen.

Afghanistan steuert nun einmal mehr auf eine ungewisse Zukunft zu. Und es ist unklar, was aus jenen wird, die keinen Platz in einem der militärischen Evakuierungsflieger ergattern konnten.

Um eine Minute vor Mitternacht Kabuler Zeit am späten Montag hob laut McKenzie das letzte US-Militärflugzeug vom Typ C-17 vom Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul ab. Die Amerikaner hatten zuvor dazu geschwiegen, wie genau der sicherheitstechnisch heikle Rückzug ihrer allerletzten Soldaten ablaufen würde. Die Sicherheitslage war bis zum Schluss prekär: Kurz vor dem Abzug hatte der afghanische Ableger der Terrormiliz IS Raketen auf den Kabuler Flughafen abgefeuert.

Erst nachdem die letzte Maschine des US-Militärs den afghanischen Luftraum verlassen hatte, veröffentlichte das Pentagon ein Bild des „letzten amerikanischen Soldaten“, der Afghanistan verlässt. Auf dem Foto ist – aufgenommen mit einem Nachtsichtgerät – zu sehen, wie Generalmajor Chris Donahue jene letzte C-17 besteigt.

McKenzie betonte, nun sei kein einziger US-Soldat mehr in Afghanistan. Er räumte aber ein, es sei nicht gelungen, alle Menschen, die man in Sicherheit habe bringen wollen, auszufliegen. „Wir haben nicht alle rausgeholt, die wir rausholen wollten.“ Man habe bis zum letzten Moment die Möglichkeit gehabt, weitere US-Bürger zu evakuieren. Aber einige hätten es nicht zum Flughafen geschafft.

Nach Einschätzung des US-Außenministeriums sind noch zwischen 100 und 200 Amerikaner in Afghanistan, die das Land verlassen wollen. Biden hatte allen ausreisewilligen US-Bürgern versprochen, sie aus Afghanistan herauszuholen. Der Präsident und sein Außenminister Antony Blinken versicherten nach dem Abschluss des Truppenabzugs, die US-Regierung werde weiter alles daran setzen, zurückgebliebene Amerikaner, aber auch andere Ausländer und schutzbedürftige Afghanen aus dem Land zu holen – nun eben mit diplomatischen statt mit militärischen Mitteln. Doch wie genau das geschehen soll, ist unklar.

von Melanie Bergermann, Jannik Deters, Thomas Stölzel

Nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August hatten die USA und ihre internationalen Partner mit der Militär-Evakuierungsmission begonnen. McKenzie sagte, in dieser Zeit habe allein das US-Militär mehr als 79.000 Zivilisten aus Kabul ausgeflogen, darunter rund 6000 Amerikaner. Die USA und ihre Verbündeten hätten gemeinsam insgesamt mehr als 123.000 Menschen außer Landes gebracht. Immer noch befinden sich aber Zehntausende Menschen in Afghanistan, die vor den Taliban fliehen wollen – bei den meisten davon handelt es sich im Afghanen.

Blinken betonte: „Die Militärmission ist beendet. Ein neue diplomatische Mission hat begonnen.“ Diese wird jedoch aus der Ferne zu steuern sein. Denn mit dem Abzug der US-Truppen gaben die Amerikaner auch ihre diplomatische Präsenz in Afghanistan auf. An Bord der letzten Militärmaschine war Ross Wilson, der bisherige US-Botschafter in Afghanistan. Blinken sagte, die USA hätten ihre diplomatischen Aktivitäten nun in Katars Hauptstadt Doha verlegt.

Die Taliban reagierten mit Jubel auf den Abzug der Amerikaner. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid schrieb auf Twitter, das Land habe jetzt völlige Unabhängigkeit erreicht. Das hochrangige Taliban-Mitglied Anas Hakkani twitterte: „Wir schreiben wieder Geschichte. Die 20-jährige Besetzung Afghanistans durch die USA und die Nato endete heute Abend. Gott ist groß.“



Ausländische Truppen waren unter US-Führung vor 20 Jahren in Afghanistan einmarschiert – als Antwort auf die Terroranschläge von Al-Kaida-Terroristen vom 11. September 2001. Der internationale Einsatz führte damals zum Sturz der Taliban-Regierung, die Al-Kaida-Terroristen Unterschlupf gewährt hatte. Der Militäreinsatz verschlang Unsummen, Zehntausende Zivilisten und afghanische Sicherheitskräfte kamen ums Leben, ebenso wie mehrere Tausend internationale Soldaten, darunter 2461 Amerikaner. McKenzie betonte am Montag, der Preis für die Mission sei hoch gewesen.

Biden äußerte sich zunächst nur in einer schriftlichen Stellungnahme, in der er seine umstrittene Abzugsentscheidung erneut verteidigte. Erst für diesen Dienstag kündigte der Präsident eine Ansprache an die Nation an. Dass der Oberbefehlshaber einen derart historischen Moment – das Ende eines für die USA höchst schmerzhaften Einsatzes, der sich über die Amtszeiten von vier Präsidenten erstreckte – nicht selbst verkündet, ist bezeichnend. Biden ist angesichts des chaotischen Abzuges heftiger Kritik ausgesetzt. Das Afghanistan-Debakel ist die bislang größte außenpolitische Krise seiner Präsidentschaft.

Der Demokrat hatte im April angekündigt, alle US-Soldaten spätestens bis zum 11. September bedingungslos aus Afghanistan abzuziehen – dem 20. Jahrestag der Anschläge von 2001 also. Nach Bidens Ansage kündigte die Nato an, den gesamten internationalen Einsatz in Afghanistan zu beenden. Im Juli zog Biden das Datum für das vollständigen Abzug schließlich auf den 31. August vor.

In den vergangenen Wochen überschlugen sich die Ereignisse in Afghanistan dann: Nach Bidens Ankündigung gewann der Siegeszug der Taliban rasant an Tempo. Die militanten Islamisten übernahmen eine Provinzhauptstadt nach der anderen – oft leisteten die afghanischen Sicherheitskräfte wenig oder keinen Widerstand. Am 15. August floh der afghanische Präsident Aschraf Ghani ins Ausland, die Taliban marschierten kampflos in Kabul ein. Die US-Botschaft wurde geschlossen, die Diplomaten flohen an den Flughafen.

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Von dort aus wickelten die Amerikaner und ihre Verbündeten zuletzt ihre atemlose Evakuierungsmission ab – geschützt von mehreren Tausend zusätzlichen US-Soldaten, die vorübergehend nach Kabul geschickt wurden. Bei einem Anschlag des IS, der mit den Taliban verfeindet ist, wurden am vergangenen Donnerstag vor dem Flughafen schließlich Dutzende Afghanen und 13 US-Soldaten getötet. Amerikas längster Krieg endete auf besonders düstere Weise.

Mehr zum Thema: Wie wichtig Krisenfrüherkennung ist, zeigt das Desaster in Afghanistan. Doch seit zwei Jahren scheitert die Regierung daran, die „Intelligence Community“ in Deutschland zu stärken – heraus kommt: Joint Farces statt Joint Forces. Dabei ist der Aufholbedarf auch in der Wirtschaft groß.

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