Europe 2024 „Was einen Aggressor wie Russland provoziert, ist Schwäche“

Die Premierministerin Estlands, Kaja Kallas Quelle: Phil Dera

Die estnische Premierministerin Kaja Kalla warnt vor der Bedrohung durch Russland, der Airbus-CEO fordert die EU-Mitglieder zur Abgabe von Souveränität auf: Am heutigen Mittwoch geht es weiter mit der „Europe 2024“.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Krieg, Inflation, Klimawandel, Migration. Eine Vielzahl von Krisen stellt die Einheit der Europäischen Union derzeit auf die Probe. Im Jahr der Europawahlen und der US-Präsidentschaftswahlen steht die EU an einem Scheideweg. Auf der zweitägigen Konferenz „Europe 2024“, die von den DvH-Medien Die ZEIT, Handelsblatt, Tagesspiegel und WirtschaftsWoche ausgerichtet wird, diskutieren Entscheiderinnen und Experten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Forschung, welche Lösungen sich für Europa in diesem Spannungsfeld bieten.

Die Kritik an der deutschen Militärhilfe für die Ukraine „kann außerhalb Deutschland niemand verstehen“, behauptet der Kanzler und sagt: „Die Debatte in Deutschland ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten.“ Deutschland sei „der größte Helfer nach den USA“. Das sei „ganz schön beeindruckend“, wehrt Scholz Fragen ab, warum er den „Taurus“ nicht liefern möchte. Und wie die Ukraine sich verteidigen kann, wenn die US-Hilfe unter einem Präsidenten Trump wegfiele.

Die Darstellung von Scholz ist eigenwillig. Nicht nur im Inland, auch im Ausland kritisieren viele das Zögern und die Halbwahrheiten des Kanzlers. Dänemark, Frankreich und Polen fordern eine schärfere Antwort auf Putins Angriffskrieg.

Wir haben in Europa zu wenig über Sicherheit nachgedacht, sagt Olaf Scholz. Der Kanzler über deutsche Atomwaffen, Telefonate mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und die deutsche Wohnungskrise.
von Horst von Buttlar, Christian Tretbar

Selbstverständlich ist die größte Wirtschaftsmacht der EU Nummer eins in absoluten Zahlen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hingegen reicht die deutsche Hilfe für die Ukraine nur für Platz 10 in der EU. Und wenn die US-Hilfe entfiele und Deutschland seine Hilfe dann nicht vervielfacht, würde die Ukraine wohl Russland unterliegen.

Mit seiner Warnung meinte der französische Finanzminister Bruno Le Maire nicht etwa die Aufrüstung gegen Russland. Sondern er bezog sich auf die europäische Wirtschaft. China und die USA hätten längst begriffen, dass sich die Spielregeln des Handels verändert hätten. Europa halte dagegen an seinem Wirtschaftsmodell aus dem vergangenen Jahrhundert fest.

Le Maire skizzierte ein neues Modell, das auf Macht und Selbstvertrauen basieren müsse. „Wir sind weder ein Anhängsel von Washington noch eine Zielscheibe für Peking“, betonte der Franzose.

Er rief die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, die europäischen Standards vollständig zu überprüfen. Man müsse die Bürokratie bekämpfen. Europäische Normen dürften die Industrie und Wirtschaft nicht belasten. Europa müsse auf Innovation setzen, statt zu regulieren. Auch müsse es eine höhere Bereitschaft geben, Risiken einzugehen.

China und die USA subventionierten ihre Industrien mit massiven Aufträgen und Steuersenkungen. Das ermögliche es den Unternehmen in diesen Ländern, Windkraftanlagen, Elektrofahrzeuge und grünen Wasserstoff zu niedrigeren Preisen als den europäischen zu produzieren. Der französische Minister erneuerte seine Forderung, eine Kapitalmarktunion zu schaffen. Nur so könne garantiert werden, dass auch in Paris und Berlin Start-up florierten.

„Made in Germany“ in Gefahr

Die amerikanische Futuristin Amy Webb prognostizierte Deutschland „einen schrittweisen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Niedergang“, wenn sich das Land nicht auf den „Weg der Innovation“ begebe. Deutschland müsse schnell handeln, sonst sei „Made in Germany 2035“ in Gefahr.

Als Ursachen nannte Webb den wachsenden Wettbewerb durch Unternehmen, unter anderem aus China, und einen veränderten Exportmarkt, der angesichts der geopolitischen Spannungen schrumpfe. Auch die Vernachlässigung des Wirtschaftsstandorts, der Fachkräftemangel und fehlende Investitionen in Innovation spielten eine Rolle.

Deutschland müsse „raus aus den herkömmlichen Komfortzonen“, sagte Webb. Es müsse zukunftsorientiert denken und eine stärkere Risikobereitschaft zeigen. Im 20. Jahrhundert habe Deutschland durch eine „Kultur der strategischen Risikobereitschaft“ und Innovationen in Bereichen wie industriellen Herstellung oder Pharma eine Vorreiterrolle gespielt.

Webb sieht „einen seltsamen Widerspruch zwischen den großen Fähigkeiten des Landes und dem Fehlen einer Zukunftsvision“. Deutschland müsse im 21. Jahrhundert erst noch um seine Führungsrolle kämpfen.

Was aus der Abgabe nationaler Souveränität entstehen kann, zeige die deutsch-französische Erfolgsgeschichte von Airbus, sagt dessen Vorstandsvorsitzender Guillaume Foury. „Wir haben uns zusammengetan und eine Größenordnung für die Industrie geschaffen, die groß genug ist, um mit den USA zu konkurrieren.“

Mit je einem nationalen Flugzeughersteller in Frankreich, Deutschland, Großbritannien oder Spanien wäre das aus Sicht Fourys nicht gelungen. Die Abgabe nationaler Souveränität habe über die Zeit dazu geführt, wettbewerbsfähig und innovativ zu sein.

„Der Green Deal ist ein Paradigmenwechsel gewesen“

„Es ist sehr frustrierend, dass wir das in Europa aktuell bei Verteidigung nicht schaffen“, sagt Foury. Der europäische Rüstungsmarkt ist noch stark fragmentiert. Die EU-Kommission hat Anfang März Pläne für den Ausbau der Industrie vorgestellt. Es soll mehr und vor allem bei hiesigen Herstellern gekauft werden. Doch aktuell ist kaum ein Staat ist gewillt, Kompetenzen an Brüssel abzugeben.

Die estnische Premierministerin Kaja Kallas wird nicht müde, vor der Bedrohung durch Russland zu warnen. Angesprochen auf die deutsche Angst vor einer nuklearen Eskalation erzählt Kallas von einer Veranstaltung, auf der sie vor kurzem mit Ukrainern darüber gesprochen habe. Diese hätten ihr gesagt, dass Nuklearwaffen ohnehin nicht gegen Deutschland eingesetzt würden, sondern gegen die Ukraine.

Kallas warnt davor, ängstlich zu sein. Und argumentiert: „Was einen Aggressor wie Russland provoziert, ist Schwäche.“

Dem Vorschlag von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, künftig einen Verteidigungs-Kommissar im Kabinett zu haben, steht sie offen gegenüber. Parallele Strukturen in Nato und EU müssten jedoch vermieden werden, so Kallas.

Die EU habe beim Umweltschutz geliefert, sagt Umweltministerin Steffi Lemke. Ein zentrales Beispiel sei die beschlossene Abkehr von Pkw mit Verbrennermotor ab 2035. „Mobilität wird elektrisch“. Die Grünenpolitikerin warnte davor, den Ausstieg rückgängig zu machen, wie es einzelne Politiker der EVP zum Wahlkampfauftakt zur Europawahl forderten. Bei der Europawahl geht es aus Sicht von Lemke auch um die Zukunftsfähigkeit des Green Deal.

„Der Green Deal ist ein Paradigmenwechsel gewesen“, sagt Lemke. Mit dessen Einführung durch die EU-Kommission nach der letzten Europawahl 2019 sei Umweltpolitik ins Zentrum von Wirtschaftspolitik gerückt und einer der wichtigsten Faktoren im europäischen Binnenmarkt geworden. Lemke verweist dabei auf zahlreiche europäische Initiativen, wie das EU-Klimagesetz, den Emissionshandel, das Recht auf Reparatur oder das Verpackungsgesetz.

Rezept zum Reichwerden? Das steckt hinter dem System von Deven Schuller

Ein selbsternannter Finanzexperte will seinen Kunden laut eigener Aussage dabei helfen, finanzielle Freiheit zu erreichen, und pflastert das Internet mit Werbung. Was steckt dahinter? Ein Selbstversuch.

Freiberufler-Report So viel verdienen Selbstständige in Deutschland

Zwei Euro mehr pro Stunde – und kaum noch ein Gender Pay Gap: Selbstständigen geht es auch in der aktuell schwierigen Lage recht gut. In welchen Bereichen sie am meisten verdienen.

Leistung Warum Manager es ihren Mitarbeitern nicht zu gemütlich machen sollten

Wenn sich Mitarbeiter sicher fühlen, bringen sie bessere Leistung. Das zumindest ist die Hoffnung. Tatsächlich ist oft das Gegenteil der Fall.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

„Die Weichen sind gestellt“, sagt Lemke. Jetzt komme es darauf an, „Strecke zu machen“ und die verabschiedeten Gesetze in nationales Recht zu überführen und umzusetzen. Die Umweltpolitik auf Druck populistischer Kräfte oder angesichts der geopolitischen Unsicherheiten zurückzudrehen, wäre die „vollkommen falsche Reaktion“.

Dieser Text erschien zuerst beim Tagesspiegel

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%