Flüchtlinge in Deutschland In drei Schritten zur gelungenen Integration

Auf das Willkommensmärchen muss echte Integration folgen. Die wird zwar richtig teuer – am Ende aber könnten Gesellschaft und Wirtschaft davon profitieren. Wie Zuwanderung erfolgreich organisiert werden muss und was das kosten wird.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Wie Gesellschaft und Wirtschaft aus der Integration profitieren können. Quelle: Dominik Butzmann für WirtschaftsWoche, Frank Beer für WirtschaftsWoche

Der Optimismus dieser Tage hat zum Beispiel diesen Namen: Alaa, 27 Jahre, geflohen aus Damaskus. Seine Eltern und seine vier Geschwister haben sich in ein Nachbardorf gerettet: „In der Innenstadt von Damaskus“, sagt er, „ist es viel zu gefährlich.“ Alaa aber hat einen weiten Weg angetreten, um dem Krieg in seiner Heimat zu entfliehen, einen Weg, der ihn bis nach Düsseldorf geführt hat. Mit seinen Eltern telefoniert er regelmäßig. Über den Ort, den er erreicht hat, weiß er dann nur Gutes zu berichten: „Alle kommen, um uns zu helfen.“

Alaa ist unter die Fittiche des privaten Vereins „Meerbusch hilft“ gekommen, der in der Stadtrandgemeinde zwischen Düsseldorf und Krefeld fast 400 Asylsuchende aus Syrien und dem Irak, aus Somalia und Eritrea betreut: fast alle mit sehr guten Chancen auf Asyl, aber noch ohne Arbeitserlaubnis. „Die wollen alle arbeiten oder studieren“, sagt der Vereinsvorsitzende Ulli Dackweiler, „keiner will sich im Sozialsystem ausruhen.“ Alaa lebt in einem improvisierten Flüchtlingsheim, das der Verein mithilfe von Handwerkern aus der Nachbarschaft in einem leer stehenden Kindergarten errichtet hat. Keine vernünftige Wohnung auf Dauer, aber viel besser als die Turnhallen, in denen viele Flüchtlinge in den ersten Wochen in Deutschland untergebracht sind.

Menschen in Krisenzeiten

Die Skepsis dieser Tage sieht derweil so aus: Eine Handvoll bunte Kinderstühle und eine kleine Plastikrutsche stehen neben einem blauen Campingzelt. Auf dem fleckigen Rasen rund um das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz Lageso, versuchen Flüchtlingsfamilien ein bisschen Spaß, ein wenig Ablenkung zu schaffen. Zumindest für ihre Kinder.

Das Lageso, Berlins wichtigste Erstaufnahmestelle für Asylbewerber, steht auf einem ehemaligen Klinikgelände. Alte Kastanien und hübsche Backsteinbauten sind über das weitläufige Gelände verstreut, es könnte ein Idyll sein im Berliner Stadtteil Moabit. Wären da nicht die mobile Röntgenstation, die grimmigen Security-Hünen, die provisorischen Wasserspender, die zusammengekauerten Menschen in ihren Schlafsäcken, die morgens noch im herbstfeuchten Gebüsch liegen. Und wären da nicht die dichten Absperrgitter rund um das graue Hochhaus, in dem das Amt seinen Sitz hat.

Überall Ausnahmezustand

Im vergangenen Herbst, als die Flüchtlingswellen Berlin zum ersten Mal so richtig erreichten, waren Foyer und Gänge des Lageso noch voller Menschen. Nun wird der Zugang zum Amt und zum Asyl reglementiert und dosiert wie an einer gesicherten Grenze. Rund 250 Wartenummern vergibt der Empfang derzeit pro Tag, am Wochenanfang sind es auch schon einmal 450. Als Berlin für das ganze Jahr 2014 rund 10.000 Flüchtlinge erwartete, galt das bereits als Belastung jenseits aller Grenzen. Dieses Jahr wird es ein Vielfaches dessen.

Das sind – im Guten wie im Schlechten – die deutschen Zustände im Hier und Jetzt. Ein bundesweiter Ausnahmezustand zwischen überbordender Hilfsbereitschaft und eklatanter Überforderung, der viele, sehr viele Fragen aufwirft: Kann das gut ausgehen? Und wenn ja, wie? Wie sollen Hundertausende Menschen Deutsch lernen, wenn es ohnehin an Lehrern mangelt? Werden Flüchtlinge Jobs finden, wenn es 2,8 Millionen Deutsche schon nicht schaffen? Und wo sollen diese Menschen leben, mit ihren Kindern?

"Deutlicher Profit von Zuwanderung"

Fragen, auf die Politiker wie Bürger Antworten finden müssen, damit die gewaltige Aufgabe gelingen kann. „Langfristig wird Deutschland deutlich von Zuwanderung profitieren“, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. „Zuwanderer werden einen wichtigen Beitrag leisten, damit dieses Land seinen Wohlstand und seine Wettbewerbsfähigkeit langfristig sichern kann.“ Aber dazu bedürfe es eines „gezielten Investitionsprogramms“, meint der Ökonom, „das jedoch weiterhin fehlt“.

Sollten in diesem Jahr tatsächlich 800.000 Flüchtlinge oder gar mehr um Asyl in Deutschland bitten, dürfte allein deren Integration zehn Milliarden Euro kosten, prognostiziert das Münchner ifo Institut. Übertrieben ist das keineswegs: Allein die Kommunen kalkulieren mit bis zu 14.000 Euro pro Jahr und Flüchtling für die Unterbringung, das wären dann schon mehr als elf Milliarden. Rund eine Milliarde geben Länder und Kommunen gerade pro Monat aus, taxiert Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke. Das entspräche zwölf Milliarden Euro im Jahr. Und diese Kosten dürften nur der Anfang sein. Damit die Flüchtlinge nicht nur untergebracht, sondern langfristig erfolgreich integriert werden, ist viel mehr nötig. Vor der Integration stehen zunächst einmal Investitionen an.

Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland

1. Ohne Bildung ist alles nichts

In Berlin-Mitte haben sie die ersten Schritte schon hinter sich. „Hallo, wie geht es dir“ – geschenkt. In Raum 128 der Volkshochschule (VHS) verteilt Jennyffer Puhle Modekataloge an die Schüler des Deutschkurses für Flüchtlinge. „Wie findest du die Hose?“, fragt Abakar sein Gegenüber. „Die finde ich hässlich“, sagt Khaled.

Die Lernatmosphäre ist entspannt. Viele der jungen Flüchtlinge im Alter zwischen 20 und 30 Jahren sind seit weniger als einem Jahr in Berlin. Sie sind wissbegierig, es herrscht konzentrierte Ruhe. Mit dem Deutschkurs beginnt für sie ein Prozess persönlicher Aufbauarbeit. Deutschland ist nun ihre neue Heimat.

Zumindest soll sie es werden, schließlich wird es Jahre dauern, bis sie voll integriert sind und am Gesellschaftsleben teilhaben. Immerhin: Deutschland hat aus früheren Migrationswellen gelernt. Bislang wurde Flüchtlingen ohne Duldungsstatus der Zugang zur Bildung verwehrt. Nun kann jeder zumindest Deutsch lernen. Allein Berlin vervierfachte den Topf für Sprachkurse in diesem Jahr auf 1,2 Millionen Euro. Wer dauerhaft bleibt, muss zudem Integrationskurse besuchen und den Sprachabschluss B1 nachweisen – „das Seepferdchen der deutschen Sprache“ nennt Michael Weiß, Chef der VHS Berlin-Mitte, das.

„Wir dürfen uns keine Illusionen machen“, meint Bildungsökonom Ludger Wößmann von der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Erwachsene lernen nicht so schnell wie Kinder.“ Und selbst wenn sie die Grundzüge der deutschen Sprache beherrschten, „hängt ein Job stark von den beruflichen Qualifikationen ab“. Unter den Neuankömmlingen gebe es eine große Anzahl von Analphabeten, so Wößmann.

"Fast jeder zweite besuchte ein Gymnasium"

Wirklich belastbare Statistiken über den Bildungsstand gibt es noch nicht, aber immerhin eine Tendenz. Die Behörden befragen Flüchtlinge bei ihrer Ankunft nach ihren Bildungsabschlüssen. „Von den insgesamt circa 105 000 befragten Asylsuchenden über 20 Jahren gaben 13 Prozent an, eine Hochschule besucht zu haben“, schreibt das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (BAMF). Immerhin fast jeder Zweite besuchte ein Gymnasium oder eine Mittelschule. Allerdings: Jeder Dritte kam nicht über die Grundschule hinaus.

Die Aus- und Fortbildung der Flüchtlinge wird somit zur gesellschaftspolitischen Mammutaufgabe, ein „intergenerativer Prozess“, wie der Berliner Amtsleiter Weiß sagt. Studenten könnten vergleichsweise schnell den Weg in die Gesellschaft finden. Die Bundesregierung erhöht nun die Zahl der Plätze in Studienkollegs. Die Bildungseinrichtungen bereiten Bewerber mit ausländischen Abschlüssen auf ein Studium an einer Hochschule vor. Und auch Kinder im Schulalter dürften eine Chance bekommen, wenn sie „möglichst schnell in einen normalen Klassenverband kommen“, so Wößmann.

Aus diesen Ländern kommen Asylbewerber in Deutschland

Doch was ist mit dem Gros der Erwachsenen? Weiterqualifizierungen werden nur „begrenzt gelingen“, sagt Wößmann. Denn selbst 17 Prozent der jungen Erwachsenen aus Deutschland seien ohne beruflichen Bildungsabschluss. „Flüchtlinge, die zum Teil ähnlich schlecht gebildet sind und noch nicht einmal die deutsche Sprache sprechen, werden auch nicht einfach so eine Berufsausbildung erfolgreich absolvieren können.“

2. Nur wer arbeitet, kann etwas zurückgeben

Die Hoffnung auf ein besseres Leben sitzt in Zimmer 109, hinter einer unscheinbaren Tür auf dem Flur eines schnöden Zweckbaus in Berlin-Spandau. Die Umgebung aber ist eigentlich egal: Was zählt, ist, dass Arman Hamidi und Kabeya Kabambi hier sind, obwohl sie es nach gutem deutschem Verwaltungsweg gar nicht sein dürften. Die beiden sind Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit (BA), sitzen aber in einer Erstaufnahmeeinrichtung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das BAMF bearbeitet Asylanträge, die BA kommt üblicherweise erst ins Spiel, wenn Flüchtlinge anerkannt sind und arbeiten dürfen. Also Monate später.

Dass Hamidi und Kabambi hier sind, ist eine bewusste Kompetenzüberschreitung, ein Modellprojekt der Arbeitsagentur. Eines, das sich aus der Erkenntnis speist, dass verlorene Zeit verlorene Integration ist.

„Alle reden gerade von der Flexibilität, die Deutschland jetzt haben muss“, sagt Hamidi, „wir haben sie.“ Hamidis Eltern kamen aus dem Iran nach Deutschland, er selbst machte sein Abi im Wedding. Kabambi ist in Kinshasa geboren und in der Bundesrepublik aufgewachsen. Nun sollen sie helfen, solche Karrieren auch für geflüchtete Syrer, Afghanen oder Eritreer möglich zu machen. Direkt nachdem Asylbewerber bei den Kollegen des BAMF ihren Antrag gestellt haben, fragen Hamidi und Kabambi nach Ausbildung, Schulabschluss, Zeugnissen, Berufserfahrung.

Die Hoffnung: Wer gute Qualifikationen mitbringt, kann dank der kurzen Wege leichter als bisher in Jobs vermittelt werden; und wer Hilfe braucht – Nachschulungen oder eine Ausbildung –, bekommt sie schneller. „Wir erleben Menschen, die extrem motiviert sind“, sagt Kabambi.

200 Euro für medizinische Versorgung

Projekte wie dieses in der Hauptstadt sind ein Anfang. BA-Chef Frank-Jürgen Weise und Arbeitsministerin Andrea Nahles wollen das Modell künftig bundesweit durchziehen. Ob, wie und wann Hunderttausende Zuwanderer in Deutschland Arbeit finden werden, ist die Schlüsselfrage der Integration. Dass sie eine riesige Herausforderung wird, zeigen die Zahlen: Nur jeder zehnte Asylbewerber gilt als direkt vermittelbar. Nahles rechnet deshalb allein im kommenden Jahr mit bis zu 460.000 zusätzlichen Hartz-IV-Empfängern, die 3,3 Milliarden Euro extra kosten würden. 2019 prognostiziert das Ministerium sogar eine Million Empfänger mehr, die mit rund sieben Milliarden Euro jährlich zu Buche schlagen.

Zudem: „Selbst die qualifizierten Immigranten mit einem Hochschulabschluss werden zunächst nur Jobs unterhalb ihrer formalen Qualifikation erhalten“, sagt Klaus Zimmermann, Chef des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit.

Prominente Fußballer, die einst Flüchtlinge waren
Fatmire Alushi Quelle: imago images
Christian Benteke Quelle: REUTERS
Hasan Salihamidžić Quelle: AP
Luka Modrić Quelle: AP
Neven Subotić Quelle: AP
Xherdan Shaqiri Quelle: REUTERS
Vedad Ibišević Quelle: dpa

Damit ist klar: Die gegenwärtige Flüchtlingswelle bedeutet auch Einwanderung in die Sozialsysteme, weil nur wenige derer, die in den vergangenen Monaten über die Grenze ins gelobte Deutschland flüchteten, ohne Weiteres auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen werden. Flüchtlinge sind außerdem häufiger krank als Einheimische. Sie leiden durch Krieg und Vertreibung auch eher an psychischen Problemen. Doch als Asylbewerber können sie nur in Notfällen und bei akuten Schmerzen zum Arzt. Die Gesundheitsministerin von Nordrhein-Westfalen, Barbara Steffens (Grüne), veranschlagt für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen im Schnitt 200 Euro pro Kopf und Monat – das wären 2,4 Milliarden für eine Million Asylbewerber.

So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern

Demografische Nöte

Aber das ist nur die eine Seite der Rechnung. Auf die andere weisen Demografieforscher hin: „Ohne Zuwanderung wird das Arbeitsangebot bis 2050 um mindestens ein Drittel zurückgehen“, sagt Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Das wäre für den Sozialstaat erst recht eine Gefahr: „Immer weniger Erwerbstätige müssten immer mehr Pensionäre finanzieren. Um das Angebot an Arbeitskräften konstant zu halten, ist eine durchschnittliche Nettozuwanderung von gut 500 000 Personen notwendig.“

Deutschland sollte sich also nicht vor Flüchtlingen fürchten – sondern nur davor, dass das Gros derer, die bleiben werden, nicht qualifiziert werden kann. Zunächst werde es wegen der Sprachhürde keinen nennenswerten Anstieg der Schwarzarbeit geben, glaubt Friedrich Schneider, Ökonomie-Professor an der Universität Linz und Experte für Schattenwirtschaft. Aber: „Dauern die Asylverfahren länger als sechs bis acht Monate, dann steigt die Bereitschaft, schwarz zu arbeiten.“ Schneider hält dies nicht einmal für wirtschaftlich schädlich. „Das schwarz verdiente Geld wird sofort in der offiziellen Wirtschaft ausgeben, die davon profitiert. Darüber hinaus ermöglicht es den Flüchtlingen ein besseres Leben.“

Vorbild aus der Schweiz

Aber eine nachhaltige Lösung wäre das nicht. Der Münchner Ökonom Ludger Wößmann fordert deshalb pragmatische Lösungen: Ausnahmen vom Mindestlohn – analog zu Langzeitarbeitslosen – und ein Aussetzen der Prüfung, ob der Arbeitsplatz, den ein Flüchtling haben möchte, nicht auch mit einem Einheimischen besetzt werden könnte (Vorrangprüfung). Zudem schlägt der Wissenschaftler vor, das Ausbildungssystem neu auszurichten. „Deutschland sollte teilqualifizierende Berufsausbildungen massiv ausweiten, die über ein bis zwei Jahre laufen“, so Wößmann. Die Schweiz habe das erfolgreich vorgemacht.

3. Eine Heimat finden

Hauptsache, ein Bett zum Schlafen und ein Dach über dem Kopf – das ist die Devise, nach der im Moment Flüchtlingspolitik gemacht wird. Angesichts der Rekordzahl von Neuankömmlingen ist das nur verständlich. Erst Nothilfe, dann die Integration. Doch denken wir wirklich schon an diesen nächsten Schritt?

„Auf die Frage, was für die Flüchtlinge nach den Pritschen und Turnhallen kommt, haben wir keine Antwort“, sagt Franziska Giffey, Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln. Mit diesem Eingeständnis der Hilflosigkeit ist sie nicht allein. Dass in Deutschland inzwischen Wohncontainer knapp und begehrt sind, liegt auch daran, dass sie längst nicht mehr nur als Provisorien genutzt werden. „In vielen Städten wurde der Neubau von preisgünstigen Wohnungen versäumt“, sagt Bernd Kniess, Professor für Städtebau an der HafenCity Universität Hamburg, „das rächt sich in der Flüchtlingskrise jetzt gleich doppelt.“ Denn die Renaissance der Städte verknappt den Wohnraum in den Metropolen ohnehin. Erschwingliche Unterkünfte in Ballungszentren sind schon jetzt kaum zu bekommen. In diesem Jahr werden rund 260 000 neue Wohnungen fertiggestellt. Viel zu wenig, glaubt man den Schätzungen des Bündnisses Sozialer Wohnungsbau. Das fordert angesichts der Flüchtlinge nun 400 000 neue Wohnungen pro Jahr.

Was Flüchtlinge dürfen

Doch zusätzlicher Wohnraum ist teuer, und der Bau kostet Zeit. Von der Planung bis zur Fertigstellung dauert es mindestens drei Jahre. Selbst wenn jetzt das Baurecht gelockert würde, kann das den Prozess zwar beschleunigen, eine Lücke zwischen Bedarf und Angebot aber bleibt. Kurzfristig könnte es deshalb durchaus rational sein, Flüchtlinge weniger nach Quote, sondern nach vorhandenem Wohnraum zu verteilen. Nach Zahlen des Forschungsinstituts Empirica stehen in Deutschlands Schwundregionen, insbesondere auf dem Land in Nord- und Ostdeutschland und in Nordrhein-Westfalen, rund 1,5 Millionen Wohnungen leer, davon sind wohl eine Million noch brauchbar. „Das kann aber nur eine Lösung sein, um Engpässe zu überbrücken“, sagt Stadtplaner Kniess. „Die Integration der Flüchtlinge wird nur in den wachsenden Städten gelingen.“ Dort finden die Migranten Gemeinschaften aus ihren Heimatländern, die den Einstieg in die neue Gesellschaft erleichtern. „Insbesondere die Abläufe im Asylverfahren sind für Neuankömmlinge kaum zu verstehen“, sagt Kniess, „da können integrierte Landsleute helfen.“

Zugleich aber liegt in diesen ethnischen Gemeinschaften die größte Gefahr. Was als hilfreiche Unterstützung beginnt, kann in einer abgekoppelten Diaspora enden, wie die Banlieues von Paris oder die Problemviertel Londons belegen. Wo Zuwanderer sich nur mit Zuwanderern umgeben, findet Integration nicht statt.

Höhere Chancen in Kleinstädten

Das bestätigt einer, der es selbst erlebt hat. Parwiz Torgull, heute 29 Jahre alt, kam 1992 mit seinen Eltern aus Afghanistan nach Deutschland. Erst wurden sie in Fulda untergebracht, später in Offenbach, einer Stadt mit besonders hohem Ausländeranteil. Torgull sagt: „Wäre ich gleich nach Offenbach gekommen, ich hätte bis heute keine ordentliche Ausbildung gemacht.“ So arbeitet Torgull in der Automobilindustrie, gerade ist er für die Motorsportabteilung von Volkswagen in China. „In dem Freundeskreis meiner Jugend sehe ich, wie sich die Biografien auseinanderentwickelt haben“, sagt Torgull, „wer in Offenbach aufgewachsen war, der ist bis heute aus dieser migrantischen Subkultur nicht herausgekommen.“ Ein geregeltes Leben hätten vor allem diejenigen, die das Zufallskarussell der Asylpolitik in behüteten deutschen Kleinstädten abgesetzt hat. Innerhalb der Städte könnte diese Zufallsverteilung eine Ghettoisierung verhindern. „Dezentralisierung ist der Schlüssel zu gelungener Einwanderung“, sagt Stadtentwickler Kniess.

Ob dezentral oder nicht, teuer wird die Unterbringung der Flüchtlinge in jedem Fall. Subventioniert der Staat etwa den Bau von Sozialwohnungen, könnte die Kaltmiete pro Quadratmeter dort auf sechs bis sieben Euro festgeschrieben werden. Ohne Zuschüsse rechnen Wohnungsunternehmen mit einem Baupreis pro Quadratmeter von mindestens rund 3000 Euro und einer Kaltmiete von rund zehn Euro. Indirekt senken könnte der Staat diese Kosten, indem er die Bauträger an anderer Stelle subventioniert. So fordern Baugewerkschaft wie Bauträger weniger Steuern aufs Bauen und bessere Abschreibungsmöglichkeiten. Nach der Einheit führte jedoch genau das dazu, dass viele Wohnungen gebaut wurden, wo sie später nicht gebraucht wurden.

1000-faches Engagement

Eines, immerhin, ist sicher: Am Engagement der Deutschen wird die Integration der Flüchtlinge nicht scheitern. Das Technische Hilfswerk hat mehr als 11.000 Kräfte im Einsatz gemeldet, die Malteser mehr als 4000 Ehrenamtler, auch der Johanniter Hilfsdienst rechnet mit mehr als 1000 ehrenamtlichen Helfern und die Feuerwehren „bundesweit mit einigen Tausend“. Gar nicht gezählt all die Studenten, Rentner und Freiwilligen, die in Nachbarschaftsinitiativen helfen, in Messehallen Kleiderspenden sortieren oder Behördengänge begleiten.

Wie in Meerbusch. Beim jährlichen Fußballturnier für Hobby- und Firmenmannschaften, wo es sonst um nette PR für Autohäuser und Bankfilialen geht, die hier ihre Mitarbeiter auflaufen lassen, nehmen in diesem Jahr auch die Super Kickers teil, ein Team von Flüchtlingen aus dem umfunktionierten Kindergarten. Auch Alaa, der junge Syrer aus Damaskus, ist dabei. Und Amanuel: 19 Jahre ist er, auch wenn er deutlich älter aussieht.

Im Sommer floh er aus dem von einer brutalen Diktatur heruntergewirtschafteten Eritrea. Seit drei Monaten ist er hier, einen Deutschkurs hat er begonnen, aber allenfalls auf Englisch ist ein Gespräch mit dem einstigen Oberschüler möglich. Arbeiten will er, am liebsten als Friseur.

Noch einer, der auf dieses Land hofft. Alaa hatte in seiner Heimat ein Ingenieurstudium begonnen, jetzt will er so schnell wie möglich einen Studienplatz in Deutschland. Wofür? „Egal, was – und ich wäre auch bereit, sofort irgendwo zu arbeiten.“ Und will er in Deutschland bleiben? „Ich möchte hier leben wie jeder Deutsche auch, ohne Hilfe von Fremden.“ Selbst dann, wenn es in Syrien einmal Frieden gibt?

Alaas Blick sagt nur: Frieden? In Syrien? Vergiss es.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%