CDU, CSU und SPD wollen im Fall einer erneuten Regierungsbildung den Spitzensteuersatz später greifen lassen und damit zum Beispiel Facharbeiter entlasten. Nach Informationen von Reuters aus Verhandlungskreisen waren sich die Experten der drei Parteien einig, dass der Spitzensteuersatz von 42 Prozent erst ab 60.000 Euro greifen statt bisher bei 53.700 Euro. Den zusätzlichen finanziellen Spielraum für die nächste Regierung bis 2021 setze man auf 45 Milliarden Euro an. Auch darüber sei man sich einig gewesen, hieß es am Montag aus Verhandlungskreisen in Berlin.
Am Morgen begann im Konrad-Adenauer-Haus der zweite Verhandlungstag der Sondierungen, die bis Donnerstag dauern sollen. Dann soll feststehen, ob die SPD-Führung am Freitag dem für den 21. Januar angesetzten SPD-Parteitag die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen für ein erneutes Bündnis mit der Union empfiehlt. Während sich viele Unionspolitiker am Montagmorgen optimistisch zeigten und die gute Atmosphäre der Gespräche lobten, äußerte sich CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder vorsichtiger. Wenn das gute Klima zwischen Union und SPD anhalte, "könnte es vielleicht etwas werden", sagte der CDU-Politiker zu den Erfolgsaussichten der Sondierungsgespräche. Hintergrund sind erhebliche Meinungsverschiedenheiten etwa bei den Themen Steuern sowie Flüchtlings- und Gesundheitspolitik.
"Wir sind gut vorangekommen, und das wird was", sagte dagegen Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). "Es waren gestern sehr gute, sehr konzentrierte Gespräche", betonte auch sein nordrhein-westfälischer Kollege Armin Laschet. "Jeder weiß, dass wir in dieser Woche ein gutes Ergebnis zustande bringen müssen." Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) twitterte, die Gespräche seien gut angelaufen. SPD-Chef Martin Schulz hatte am Sonntag betont, dass die Verhandlungen "ergebnisoffen" seien.
Nur der neue sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer äußerte sich kritisch. Bei der geforderten Neuausrichtung der Politik dürfe nicht zuviel über Geldausgeben gesprochen werden, sagte der CDU-Politiker. Vielmehr müsse Politik Freiräume für künftige Generationen und Investitionen in die Zukunft ermöglichen. Angesichts der beispiellos guten Konjunktur und Finanzlage "jetzt von staatlicher Seite immer stärker in die Umverteilung zu gehen, kann einfach nicht der richtige Weg sein". Auch dürften Unternehmen nicht zusätzlich belastet werden. Dies könnte etwa durch die von der SPD geforderte Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Gesundheitsversicherung der Fall sein.
Die 15 Arbeitsgruppen hatten bereits am Sonntag ihre Arbeit aufgenommen. Die meisten setzten die Beratungen am Montag fort. Im Laufe des Tages kommen auch die Partei- und Fraktionschefs sowie die große Runde mit je 13 Vertretern der drei Parteien zusammen.
Die SPD schlingert Richtung GroKo
Das hängt vor allem davon ab, ob Schulz genug herausholen kann in den Sondierungen in den ersten beiden Januarwochen, so dass er beim Sonderparteitag - wahrscheinlich am 14. Januar - das Ok der Basis für konkrete Koalitionsverhandlungen bekommt. Bisher sind nach Schätzungen in einzelnen SPD-Landesverbänden bis zu zwei Drittel der Delegierten gegen eine neue GroKo. Schulz will bei den Sondierungen mit der Union für einen „anderen Stil“ sorgen als bei den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen von Union, FDP und Grünen. „Bei uns wird es keine Balkonbilder geben, auch kein Winken.“ Intensives Twittern von Zwischenständen will er auch unterbinden.
Merkel weiß, dass Schulz ein paar „Leuchtturmprojekte“ braucht, um den Parteitag zu überstehen. Und wenn es zum Koalitionsvertrag kommt, auch noch das abschließende Votum der rund 440 000 Mitglieder. Doch CDU und CSU wollen nur über eine große Koalition reden. Schulz dagegen will auch andere Modelle „ergebnisoffen“ verhandeln - wie eine von der SPD tolerierte Minderheitsregierung oder eine „Kooperationskoalition“, bei der die SPD zwar Minister in die Regierung schickt, aber nur bei Kernprojekten wie dem Haushalt und Auslandseinsätzen mit der Union kooperiert. Bei anderen Themen könnten sich beide Seiten hier auch mit anderen Parteien verbünden. Als Beispiel gilt die gegen die Union durchgesetzte „Ehe für alle“.
Gerade die Jusos sammeln Verbündete für ihre Kampagne #NoGroKo. Sie argwöhnen, die Parteispitze habe sich längst auf GroKo-Verhandlungen eingestellt und nähre nur noch die Illusion von anderen Optionen, um sie ruhigzustellen. Schulz hat in sein zwölfköpfiges Sondierungsteam auch den Landeschef der SPD in Nordrhein-Westfalen, Michael Groscheck, geholt. Im größten Landesverband, der fast ein Viertel der Delegierten bei dem Sonderparteitag stellt, gibt es große Ablehnung; hier wird eine Minderheitsregierung favorisiert. Hat Schulz zu wenig zu bieten, droht eine Ablehnung, dann wäre auch er als Parteichef kaum zu halten. Er argumentiert, dass die SPD auch dringend gebraucht wird, um Reformideen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für „mehr Europa“ zügig umzusetzen.
Zum Beispiel bei einem SPD-Herzensthema, dem Rückkehrrecht von Teilzeitbeschäftigten auf Vollzeitstellen, was vor allem hunderttausende Frauen betrifft. Ziel der Partei ist es, das Leben der Menschen zu verbessern, wieder Kümmerer-Partei zu werden. „Bei gutem Willen auf beiden Seiten halte ich das für lösbar“, sagte Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) dem „Spiegel“. Schon in der letzten Koalition sei das nur an der Frage gescheitert, ab welcher Betriebsgröße das Rückkehrrecht gelten soll. Interessant: Schulz redet auch nicht mehr über eine einheitliche Krankenkasse; viele in der SPD wollen die Flucht von Beamten und Besserverdienern in die private Versicherung stoppen. Hier könnte die Union der SPD mit Änderungen bei den Beiträgen für Arbeitnehmer entgegenkommen.
Nach der letzten GroKo landete die SPD bei der Bundestagswahl bei katastrophalen 20,5 Prozent. Seit dem rot-grünen Wahlsieg mit Gerhard Schröder 1998 hat die SPD zehn Millionen Wähler verloren. Die AfD sitzt der ältesten demokratischen Partei im Nacken. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel lag die SPD bei der Landtagswahl bei 10,6 Prozent, die AfD bei 24,3 Prozent. Als ein Grund wird der Verlust von Profil in einer Koalition mit Merkels Union angesehen - und ein Verlust des Kontaktes zu den „kleinen Leuten“. Kaum jemand weiß, wofür die SPD heute steht - das Wahlprogramm war ein Sammelsurium vieler Vorschläge, ohne klare Idee für die Zukunft Deutschlands in Krisenzeiten. Viele Genossen fürchten auch, als Regierungspartei bleibe zu wenig Zeit für die nötige Erneuerung.
Natürlich Parteichef Schulz, dem aber nach seinem mehrfachen Nein zu einer großen Koalition Misstrauen entgegen schlägt. Wichtig dürfte sein, ob Groschek die NRW-SPD auf GroKo-Kurs bringt, und wie viel Überzeugungsarbeit die Bundestagsfraktionschefin Andrea Nahles im linken Flügel übernimmt. Eine gewichtige Rolle kommt aber auch dem neuen „Parteiliebling“ Malu Dreyer zu - sie wurde gerade erst mit famosen 97,5 Prozent zur neuen SPD-Vizechefin gewählt. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin erinnert in ihrer Rolle an Hannelore Kraft 2013 vor der letzten GroKo: erst große Skeptikerin, die dann die Partei davon überzeugte, dass man es angesichts durchgesetzter Forderungen - wie 8,50 Euro Mindestlohn - machen müsse. Dreyer betont nun: „Man wird am Ende dann sehen, wie weit man mit den Inhalten kommt, darum geht es, was man bewegen kann in unserem Land. (...).“ Senkt sie am Ende den Daumen, dürfte es schwierig werden. Für Schulz beginnt die wohl schwierigste Weihnachtszeit in seiner politischen Karriere.
Wer wird entlastet, wer belastet?
Die Einigung auf die finanziellen Spielräume gilt dabei als Grundlage für die Beratungen, weil danach klar wird, welche Projekte finanziert werden können. "Wir wissen um die begrenzten Finanzspielräume, und wir sind guter Dinge", sagte die rheinland-pfälzische CDU-Chefin Julia Klöckner.
Einig seien sich CDU, CSU und SPD, dass eine erneute große Koalition kleine und mittlere Einkommen entlasten wolle, hieß es in Verhandlungskreisen. Unklar blieb aber zunächst, in welchem Umfang dies geschehen soll. Strittig ist die SPD-Forderung, zur Gegenfinanzierung höhere Einkommen stärker zu belasten. Dies lehnt die Union bisher ab. Im Prinzip gebe es zudem Einigkeit, den Solidaritätszuschlag schrittweise abzubauen. Auch hier sei der Weg aber unklar. Bis zur nächsten Sitzung der Arbeitsgruppe Finanzen am Dienstag wollten die Parteien verschiedene Entlastungsmodelle ausrechnen.
Die Erhöhung der Grenze, ab der der Spitzensteuersatz greift, ist seit Jahren im Gespräch, weil mehr und mehr Arbeitnehmer und Personengesellschaften davon betroffen sind. Die Erhöhung der Grenze auf 60.000 Euro würde zumindest einen Teil derjenigen entlasten, bei denen in den vergangenen Jahren der Spitzensteuersatz gegriffen hat. Der DIHK warnte vor einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes. "Wer in diesen Zeiten über Steuererhöhungen auch nur nachdenkt, betreibt ein gefährliches Spiel", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) Eric Schweitzer.